Sonntag, 17. Dezember 2006

Auf 26 Zoll durch den Jura

Zu Ostern 2003 im "anderen" Gebirge der Schweiz



Unser Zug hat sich noch nicht allzu weit aus Basel entfernt, da wird´s vom Fenster aus schon spannend: linkerhand fließt uns malerisch die Birs entgegen, beidseitig recken sich immer wieder Kalktürme und ausgewaschene, aalglatte Felswände empor, dazwischen jede Menge hügliges Grün und ausgedehnte Tannenwälder, die die umliegenden Höhenzüge überdecken, woraus immer wieder weiße Kalkfelsen hervorlugen. Wir sind im Jura und die draußen vorüberziehende Landschaft eine typische für dieses bei vielen Bergfreunden doch wenig bekannt gebliebene Mittelgebirge. Während sich die Aktivitäten der meisten Bergler doch auf die Schweizer Alpen beschränken, bleibt der Jura meist links liegen. Auch ich selbst wußte vom Jura bislang nicht allzu viel, es war vielmehr mein Drang, etwas Neues zu entdecken, und die relativ gute und rasche Erreichbarkeit von meiner Heimatregion aus, die mich und meinen Kameraden Magnus "Mäggi" Gaiser hierher brachten. Bis zuletzt trieb mich die Frage um, ob unsere Reise in den Jura nicht etwa doch vielleicht eine etwas mäßig interessante Tour werden könnte, bei der Vorbereitung fielen mir Bücher mit eher prosaischem Inhalt in die Hände, in denen oft nur auf die "sanftere" Seite des Jura eingegangen wurde, seine saftigen Bergwiesen, würzig duftenden Tannenwälder, Leben und Tradition in den Tälern, sowie Kulinarisches und geschichtliche Aspekte, und der Hinweis auf weite Horizonte, die sich dem Wanderer im Jura auftun. Alles Dinge, die in mir einerseits eine gewisse Lust am Entdecken dieser Region geweckt hatten, die Ambitionen des selbsternannten "Bergforschers" mit alpiner Ausrichtung zunächst jedoch eher zurückstellten.

Um es vorweg zu nehmen, beides ist im Jura vorhanden und zu entdecken: ruhige Täler, sanft gewelltes Weideland, ausgedehnte Waldgebiete, typische Gehöfte, Spuren der Geschichte und noch am Leben gebliebene Traditionen, aber auch subalpine Berggipfel, steil abstürzende Felswände, tosende Wasserfälle und beängstigend enge Felsschluchten werden Kulturbeflissene, Wanderer, Kletterer, Radfahrer und Motorradfreaks (kurvige Bergstraßen!) gleichfalls zufrieden stellen und nur die Aufmerksamkeit auf all diese Aspekte kann ein wirkliches Bild dieses Stücks "unbekannter" Schweiz vermitteln. Eine Besonderheit des Jura - Gebirges, die zunächst nicht offensichtlich ist, will ich unbedingt noch erwähnen: Höhlen. Wie viele andere Kalkgebirge hat auch der Jura zu eigen, daß er seine Wasser oft unterirdisch verschwinden läßt, um sie dann andernorts wieder hervorsprudeln zu lassen. Unter seinen Kalksteinen und Wiesenmatten verbirgt der Jura also ein riesiges und teils noch unerforschtes Höhlen - und Grottensystem, ein Abenteuerspielplatz für Späologen.

Irgendwo hinter dem Ort Laufen passieren wir die Sprachgrenze, abrupt, wie so oft in der Schweiz. Hier nennt man diese Grenze auch den "Röstigraben", in Anlehnung an die Nationalspeise der Deutschschweizer. Der Unterschied zwischen der deutschen und der sogenannten welschen Schweiz beschränkt sich jedoch bei weitem nicht nur darauf, daß die einen ihre Rösti und die anderen das Käsefondue erfunden haben. In vieler Hinsicht weht hier der Hauch Frankreichs, mit dem man sich hier oft näher verbunden fühlt, als mit dem schwyzerdütschen Bern, die Abstimmungsergebnisse zur Beitrittsfrage der Schweizer in die EU ergaben hier ein klares "Ja". Wir erreichen Delemont, der Hauptstadt des erst seit 1974 bestehenden Kantons Jura, der sich schließlich aufgrund dieser Unterschiede aus dem Kanton Bern herausgelöst hat. Hier heißt es nochmal Umsteigen.

Bald fährt der Zug durch einen mehrere Kilometer langen Tunnel, an dessen Ende schließlich der Ausgangspunkt unserer Tour erreicht ist, das wunderschöne, alte Städtchen Ste. Ursanne (494 m), traumhaft an den Ufern des Flusses Doubs gelegen, dessen Lauf wir stromaufwärts zu folgen beabsichtigen. Vor etwa anderthalb Jahren habe ich meine Kampfsporttätigkeiten dezimiert und dafür eine neue Disziplin in mein Trainingsprogramm aufgenommen: das Mountainbiken. Außer den sportlichen bietet das Mountainbike weitere Möglichkeiten in Bezug auf Alpinismus: zum einen als konditions- und geschicklichkeitsförderndes Sportgerät, zum anderen als rasches Fortbewegungsmittel, zum Beispiel in Form von "Bike and Hike", d. h. so weit und so gut wie möglich mit dem Rad anzufahren, und wo ein weiteres Fortkommen mit demselben nicht mehr möglich ist, als Fußwanderer weiterzumarschieren. Es ist für uns beide die erste mehrtägige Ausfahrt mit Mountainbike, wobei wir unser gesamtes Gepäck, Zelt Lebensmittel und Kleidung für vier Tage in unseren Rucksäcken auf dem Rücken mitführen. Die Wegstrecke selbst soll einen Mix darstellen aus nur für Mountainbikes geeigneten, sogenannten Single - Trails, d.h. wurzel- und steinübersäte, gelegentlich exzessiv steile Bergpfade, geschotterte Feld- und Forstwege, ruhige, wenig oder gar nicht befahrene Asphaltsträßlein und Landwirtschaftswege, und - wo nicht anders machbar - auch vom Autoverkehr häufiger frequentierte Straßen.

Der erste Tag soll uns gänzlich am Ufer des Doubs entlangführen, und hinter Ste. Ursanne geht´s gleich los mit einem traumhaften Single - Trail. Traumhaft für mich, denn mein Freund Mäggi, der auf seinem völlig ungefederten Bike durchgeschüttelt wird wie ein Milchshake, kommt schnell zur Einsicht, daß seine nächste Investition ein geländegeeigneter "Fulli" sein wird. So wird es dann bezeichnend für unsere gesamte Tour, daß im schwierigen Gelände ein fluchender Mäggi hinter mir herrattert, während ich mit hängender Zunge auf den Asphaltpassagen nur Rucksack und Hinterreifen meines Freundes sehe. So wird dann unsere erste große Ausfahrt gleichzeitig auch zur Testfahrt: welches Material und Gerät eignet sich? Kann man mit solch schweren Rucksäcken überhaupt noch ordentlich fahren? (Man kann, sogar in schwierigerem Gelände!) Wie viele Kilometer und vor allen Dingen Höhenmeter kann man in eine Tagesetappe "hineinpacken" ?

Mögen zwar die verschiedenen Wegbeschaffenheiten dem einen behagen und dem anderen nicht, in einem sind wir uns von Anfang an einig: die Fahrt entlang des Doubs - Ufers ist landschaftlich großartig und abwechlungsreich. Bei frühsommerlichen Temperaturen radeln wir vorbei an Gehöften, durch wohlduftende Mischwälder, bald drängt sich unser Weg zwischen Flußufer und naherückende Felswände, bald öffnet sich das Flußtal, um Ackerbau und Viehzucht Platz zu lassen. Holztische mit Bänken und Feuerstellen laden zum Picknick ein, viele Angler verweilen am Ufer oder treiben im Holzboot, man grüßt uns höflich mit "Bonjour messieurs!". Bisher bewegen wir uns auf der orographisch linken Flußseite, Brücken zum anderen Ufer sind selten, dafür sieht man gelegentlich Seilwinden und am Ufer liegt ein Holzkahn, die andere Art, den Fluß zu überqueren! Der Mont Terri zu unserer Rechten läßt den Fluß einen riesigen Bogen machen, dessen Spitzkehre sich in Ste. Ursanne befindet. Wären wir dort dem anderen Arm flußabwärts gefolgt, so hätte er uns nach etwa 10 Kilometern nach Frankreich hineingeführt, jene Variante, der eine Gruppe schweizer Radler (zwei junge Damen und ihre Begleiter) gefolgt war, die mit uns in Ste. Ursanne aus dem Zug gestiegen war.

Soubey (476 m) heißt die erste nennenswerte Ortschaft, die wir erreichen, auffallend dort die schöne Sonnenuhr, die das alte Dorfkirchlein ziert. Noch fließt der Doubs gänzlich auf Schweizer Territorium, bald jedoch soll er zum Grenzfluß zwischen Frankreich und der Schweiz werden, und je weiter wir flußaufwärts strampeln, desto enger wird das Tal, auch Anstiege nehmen zu, werden im Gefälle wieder rasch zunichte gemacht, gleichfalls wie die Illusion, die Etappe entlang des Doubs wäre eine gemütliche Sonntagsausfahrt auf flach verlaufenden Feldwegen. Zahlreiche Restaurants stehen in größeren Abständen zueinander am Wasser, meist wunderschöne, alte Häuser im jurassischen Stil aus dem vor- oder vorvorletzten Jahrhundert, ehemalige Mühlen oder Bauernhöfe, an denen kreidebeschriebene Tafeln "Truite du Doubs", Forelle aus dem Doubs anpreisen.

Goumois, der nächste größere Ort, besteht aus einem schweizer und einem französischen Ortsteil, durch Zoll und Doubs - Brücke getrennt, mit pittoreskem Ortsbild. Die Landschaft bleibt durchgehend attraktiv, tolle Rastplätze an grünen Flußauen, dünne Wasserrinnsaale, aber auch kleinere Wasserfälle fallen über die das Tal begrenzenden Felsen, queren unseren Fahrweg und vereinigen sich mit den Wassern des Doubs. Die Echelles de la Mort (Todesleitern), die angeblich über 450 schwindelerregende Höhenmeter auf´s Plateau hinaufführen, sind anscheinend nur von der französischen Seite aus erreichbar, wir sehen unterwegs kein Hinweisschild.

Beim schönen Weiler Biaufond schlägt der Doubs abermals einen kühnen Bogen, öffnet sich zum weiten Stausee, kleine Bootsanlegestellen säumen die Ufer, unser Sträßchen führt direkt am Zollhaus vorbei, an dem schweizer und französische Zöllner zusammen Dienst tun. Die frühe Abendsonne schickt goldene Strahlen durch´s Blätterwerk der von uns durchstreiften Wälder, immer mehr fordern uns jetzt Steigungen, wild angelegte, schmale Single - Trails schütteln uns durch und fordern Konzentration, gelegentlich sind sie abenteuerlich in die Felswand geschlagen, Tragepassagen über Holz- und Steintreppen häufen sich, das eine oder andere faszinierende Felstor wird durchfahren, traumhaft! Allerdings ist hinzuzufügen, daß es sich hier um einen Fußweg handelt, der eigentlich für Radfahrer verboten ist, so daß wir beim Auftreten von Fußgängern, die sich allerdings, trotz Feiertag - in erträglicher Anzahl halten, stets abbremsen und die Leute freundlich grüßen, so daß es zu keinen einzigen unangenehmen Zwischenfall kommt. Eine der verzwicktesten Tragestellen meiner bisherigen Mountainbikerkarriere finden wir an einem Stauwerk, mit unseren schweren Rucksäcken garniert, wird die Sache nicht gerade leichter, aber als Teil des Abenteuers macht das Ganze doch auch Spaß! Danach führt uns der Weiterweg durch eine düstere, irgendwie unheimliche Schlucht, schwieriger Single - Trail, immer wieder umgestürzte Bäume, Erdrutschpassagen, zwischendurch eine Dusche von oben durch ein weitstreuendes Wasserrinnsal, in der gesamten Schlucht herrscht Steinschlaggefahr.

Zwei junge Burschen haben ihr Zelt direkt ans sandige Ufer des hier wenig Wasser führenden Flusses gesetzt, die Warnschilder vor Springflutgefahr durch das nahe Kraftwerk ignorierend. Es gäbe auch die eine oder andere flache Stelle weiter oben im Abhang, wir ziehen jedoch weiter, in der Hoffnung, aus dieser beengenden Klamm herauszukommen, und vielleicht doch noch ein schönes Plätzchen mit Holzbänken und Feuerstelle für die einbrechende Nacht zu ergattern. Kurz vor der Staumauer des Stausees Lac de Moron wechseln wir über ein kleines, momentan trocken liegendes Betonwehr die Uferseite und landen somit in Frankreich. Eine anstrengende Schiebepassage hinauf zur Staumauer folgt, dann ein kurzes Auf und Ab durch schönen Wald entlang des Stauseeufers, und da haben wir ihn auch schon, unser ersten Nächtigungsplatz! Ein Fischerhüttchen mit Vordach und Holztisch und - bänken, in bester Lage über dem malerischen Seeufer. Gegenüber eineVerschachtelung von Felswänden mit Echo, und absolute Einsamkeit, Klasse! Als die Nacht hereinbricht wird die Stille nur noch durch das Heulen eines Uhu und das Krächzen anderer Waldvögel unterbrochen.

Die Kühle des folgenden Morgen, wir haben ohne Zelt unterm Dach genächtigt, wird mit Capuccino und mehr oder weniger gelungenem Kaiserschmarren vom Esbit - Kocher überbrückt. Gut ausgeruht schwingen wir uns wieder auf unsere Gäule, in Richtung eines der Höhepunkte unserer Tour, dem Saut du Doubs, einem 27 Meter hohen Wasserfall. Vorher müssen wir aber noch einen kräftigen Anstieg durch den Wald bewältigen, bis wir schließlich zum ersten und wohl besten Aussichtspunkt auf den Saut gelangen: er befindet sich direkt gegenüber des Falls, hoch über der tosenden Gischt, und wir blicken fasziniert von der Anhöhe aus hinunter zu diesem herrlichen Naturspektakel, das jetzt im Frühjahr aufgrund der hohen Wassermenge besonders intensiv ist. Aufgrund seiner Symmetrie könnte man in die Versuchung kommen, ihn für einen künstlichen Wasserfall zu halten, was keineswegs der Fall ist, genau so wenig, wie der sich anschließende, prächtige Stausee Lac des Brenets (in Frankreich Lac de Chaillexon genannt!), der durch herangetragenes Geröll gestaut wird.

Abwärts gelangen wir zu Fuß zum Aussichtspunkt neben den Fall, man kann von hier aus direkt auf die herabstürzenden Wassermassen draufschauen, gegenüber liegt das schweizer Panoramaplateau. Der unbedarfte Wechsel von gestern auf die französische Flußseite entpuppt sich jetzt als Glücksfall, denn der vorhin erwähnte, beste Panoramablick bietet sich nur von hier aus. An den Bootsanlegestellen sind die beiden Restaurants noch nicht für den Empfang von Gästen bereit, auch auf der anderen Uferseite sieht´s noch recht verlassen aus, so daß wir auf den zweiten Morgenkaffee mit Croissant verzichten müssen. Um in den Genuß des Seepanoramas zu kommen, werden wir wieder um ein paar deftige Höhenmeter bergauf gejagt. Die nun folgenden Aussichten auf den felsengesäumten See und die beiden Ortschaften Villers le Lac (Fr) und Les Brenets (Ch), die sich hüben und drüben vom Ufer aus die Anhöhen hinauf ziehen, lohnen aber die Qualen. In Villers le Lac wird erst mal Brot gekauft, dann folgt der lang ersehnte Kaffee auf der Terrasse der an der Hauptstraße gelegenen Brasserie, wo das typisch französische Ortsbild und die hübschen Passantinnen das Auge erfreuen.

Erfrischt und ausgeruht setzen wir alsbald unseren Weg fort, passieren die Brücke und betreten somit wieder die Schweiz. Zwischenstop an einem Brunnen in Les Brenets: das Jurawasser sprudelt in den Tälern und den Combes und Closes (längs und quer verlaufende Schluchten) allenthalben aus Felsspalten oder, bereit zur Abzapfung, aus gefaßten Quellen und Brunnen am Weg. Selbst in den Ortschaften liest man eher selten "eau non potable" - Kein Trinkwasser, so auch hier, rein, gesund und wohlschmeckend. Vorsehen muß sich allerdings, wer sich auf die Kammhöhen, die sogenannten "Cretes", begibt, denn der überall im Jura dominierende Kalk schluckt das Wasser förmlich, so daß man dort oben schnell in eine unangenehme Dürreperiode geraten kann.

Auf einem ruhigen Landsträßchen ziehen wir weiter bergauf, hinaus aus der Ortschaft, mit umfassenden Ausblicken über Dächer und Kirchturm von Les Brenets zurück zum langgezogenen Stausee, dem französischen Villiers le Lac und den sich ringsum auffaltenden, tannenbewaldeten Gebirgszügen. Ein Wanderweg führt uns nach anfänglichem Downhill schließlich auf einem hart in die Höhe steigenden Single - Trail zu den ersten Häusern des Uhrmacherstädtchens Le Locle (916 m), welches sich an zwei Hangseiten eines Tales hinaufzieht, das Zentrum befindet sich unten im Talboden, wo wir auf dem kleinen Marktplatz den geeigneten Ort für einen deftigen Mittagshappen finden, bestehend aus dem in Villiers le Lac erstandenen, frischen Baguette - Brot, geräuchertem Schinken und Salami, sowie Schokolade zum Dessert. Zum Abschluß genehmigen wir uns noch einen Cafe - Creme im Straßencafe vis-a-vis.

Le Locle ist sozusagen die kleine Schwester des nahen La Chaux de Fonds, beides alte Uhrmacherstädte, in Le Locle sollen zudem auch die ehemaligen unterirdischen Mühlen eines gewissen Herrn Sandoz zu besichtigen sein, dessen Nachkommen schließlich den weltbekannten schweizer Chemiekonzern hochgezogen haben. Das Uhrmacherhandwerk indes hat im Jura Tradition und ist bis heute wichtiger Industriezweig geblieben. Angefangen haben damit die paysans - horlogeurs, die Bauern - Uhrmacher, aus einem logischen Motiv heraus: des Sommers war man mit der Landwirtschaft beschäftigt, in den hier vorherrschenden, extrem kalten und schneereichen Wintern wurden die Bauern jedoch sozusagen Gefangene auf ihrem eigenen Hof. Die beste Möglichkeit, sich trotzdem noch gewinnbringend zu beschäftigen, bestand in filigraner Handarbeit in der warmen Stube, wobei sich die Uhrmacherei als regionales Kunsthandwerk etablierte. Viele Jurahäuser haben deshalb zur Südseite hin, dort, wo das Tageslicht lange erhalten bleibt, auffallend große Fenster, hinter denen sich die sogenannten Ateliers befinden

Obwohl wir nur mit einer Straßenkarte für die gesamte Schweiz ausgestattet sind - wir nennen sie spaßeshalber "Europakarte" - sind wir bislang doch problemlos vorangekommen. Es war mir einfach zu blöde, für unsere 4-tägige Ausfahrt drei oder vier verschiedene, sackteuere Kartenblätter vom Schweizer Jura zu erstehen. Jetzt müssen wir dafür in Kauf nehmen, daß wir eben mal einen Anstieg für die Katz´machen, nämlich den hinauf zum auf der gegenüberliegenden Hangseite gelegenen Ortsteil, um sogleich wieder von Hinweischildern nach unten geschickt zu werden. Bald jedoch befinden wir uns wieder auf dem vorgesehenen Weg, der uns hinaufführt ins Hochtal von La Brevine, dem kältesten Ort in der Schweiz. Im Winter wurden hier schon unter minus 40 Grad gemessen. Dies erklärt sich aus der muldenförmigen Talform, aus der die Kaltluft nicht mehr abfließen kann. Es ist dasselbe Phänomen, von welchem ich bereits über den kältesten Ort Rumäniens, einer Talschaft in Transsilvanien, gelesen habe.

Sehr dünn besiedelt zeigt sich das Gebiet um La Brevine (1043 m), winzige Ortschaften, weit verteilt, dazwischen einzelne Gehöfte, viele juratypische Häuser. Ausgedehnte Viehweiden und Nadelwälder bestimmen das Landschaftsbild, und tatsächlich fegt uns, trotz strahlendem Sonnenschein, ein kalter Wind um die Ohren. Wir kommen am abgelegenen Lac les Tailleres vorbei, dem einzig sichtbaren, es soll hier angeblich viele unterirdische Seen geben.

Im Weiler Le Cernil haben wir bei knapp 1200 m den höchsten Punkt erreicht, die Straße führt hier abwärts in ein neues Tal, nämlich ins Val de Travers. Vor der Abfahrt halten wir jedoch noch zu einer raschen Einkehr zu einer Fanta im Wirtshaus "Le grand Frederik". Der Name ist geschichtsträchtig, erinnert er doch an die Zeit, als der Jura preußisch war, eine Epoche, die die Jurabewohner getrost die "gute, alte Zeit" nennen können. Die Anbindung an Preußen unter Friederich dem Großen war selbstgewählt, den Jurassiern wurden für die damalige Zeit ungewöhnlich viele Freiheiten und geringe Tributpflichten zugestanden. Vor allem die humanitäre Toleranz der Herrschaft war es, die dem Val de Travers einen berühmten Asylanten bescherte: den Aufklärungs-
philosophen Jean - Jaques Rousseau. Von den Autoritäten unbehelligt, war es allerdings die Intoleranz der hiesigen Bevölkerung, die dem in extravaganter Kleidung, aber ansonsten bescheiden auftretenden Rousseau nach einiger Zeit die neue Wahlheimat vergällte und in das nächste Exil nach England trieb.

Mit Volldampf geht,s jetzt abwärts, über ein Seitental mit der Ortschaft Les Bayards hinunter ins Val de Travers. An einem juratypischen Gasthof gelangen wir zur Hauptverkehrsader, rauschen durch St. Sulpice, vorbei am Bahnhof, wo wir einen Blick auf die Museumsdampfeisenbahn erhaschen, die dort ihr zuhause hat. Ab Fleurier (741 m) verlassen wir die Straße durch das Tal und wenden uns gen Südosten, Richtung Ste. Croix. Nicht etwa wegen des für seine Spieluhrenherstellung bekannte Bergstädtchens treibt es uns dorthin, vielmehr haben wir den höchsten Punkt unserer Tour im Sinn, den 1607 m hohen Berg Le Chasseron, bekannt für seine extraordinäre Aussicht, unter anderem auf die westliche Alpenkette von den Berner Alpen bis hinunter zum Mont Blanc. Unserer "Europakarte" war nicht eindeutig zu entnehmen, was uns jetzt, in den frühen Abendstunden, noch erwartet: ein deftiger Paßanstieg. Als wir ein Schild passieren, das für den entgegenkommenden Verkehr "Val de Travers" anzeigt und der Blick nach vorne einen enormen Felsdurchbruch erkennen läßt, ahnen wir es zwar, aber haben noch die Hoffnung, daß es sich vielleicht nur um ein kleines "Päßchen" handeln könnte. Und manchmal ist es gut, wenn man´s nicht weiß. Nach jeder Kurve hegen wir die Hoffnung, es möge vielleicht die letzte sein, aber stets folgt noch eine weitere. Trotz der Mühe ist die Paßstraße ein landschaftliches Erlebnis. Man passiert unterwegs ein Felsentor, ein wunderschönes Bachtal tut sich rechts unter uns auf, der Autoverkehr ist mäßig, und wir atmen würzige Luft. Auf etwa 1200 m Höhe haben wir es schließlich geschafft. Im Wald machen wir Panzersperren aus, die Straße selbst würde uns in wenigen Minuten ein Stück weit hinunter nach Ste. Croix bringen, uns aber weist ein gelbes Wanderschild den Aufstieg nach links zum Chasseron. Kaum weg von der Straße, bietet sich uns ein prädestinierter Nächtigungsplatz. Unterhalb eines Abhangs wird der Wiesengrund flach, genau richtig für´s Zelt. Wir haben von hier aus eine Aussicht auf Ste. Croix zur einen Seite, sowie zum Gipfelkreuz eines Vorgipfels des Chasseron auf der anderen Seite. Während wir auf unserem Esbit - Kocher die Suppe zum Dampfen bringen, können wir zusehen, wie langsam die Lichter unten im Ort angehen.

Nachts trommeln Regengüsse auf die Zeltwand, die sich in den frühe Morgenstunden jedoch wieder einstellen. Gleich nach dem Frühstück wird´s ernst: zunächst auf Pfadspuren über die Wiese, dann holpriger, leicht schmieriger Single - trail und schließlich Schotter, immer steil aufwärts. Ein Reiter kommt uns bei einem Gehöft entgegen. Ich habe gehört, daß es durchaus üblich sei, den Jura auch hoch zu Roß zu bereisen, hat der Goethe ja schließlich auch getan, sozusagen ride and hike! Im Bereich der Bergstation des Schlepplifts stellen wir unsere Gäule jedenfalls erst mal ab und beschließen, die verbleibenden Höhenmeter zu Fuß zu machen. Der Chasseron ist ein für den Jura typischer, langgestreckter Bergkamm, die Gipfel sind hier für gewöhnlich wenig markant. Als wir auf dem Kammweg angelangen, pfeift uns gleich ein kaltes Lüftlein um die Ohren, wir sehen den Gipfel mit Hotel und Wetterstation in einigermaßen Entfernung, wobei es mir wieder in den Sinn kommt: Ich hatte im Vorfeld unserer Reise gelesen, daß der Gratweg hinterm Gipfel weiterführt, und es möglich sei, beispielsweise durch die Schlucht Poeta Raisse hinunter nach Motiers im Val de Travers zu gelangen. Es wäre also durchaus sinnvoll gewesen, die Räder mit nach oben zu nehmen.

Vom Kammweg aus glauben wir jedoch bereits eine gute Alternative ausgemacht zu haben. Ein Fahrweg verbindet unter uns mehrere schön gelegene Almen (frz.: alpage), und von dort unten aus wird sich wohl dann eine Abfahrt hinunter ins Tal schon finden , möglicherweise sogar doch noch durch die Poeta Raisse. Jetzt aber zuerst mal auf zum Gipfel! Auch heute herrscht wieder sonniges Wetter, bedauerlicherweise aber keine so gute Fernsicht, das heißt die Alpen sind nur schemenhaft auszumachen, Blicke über den Jura zu beiden Seiten und Neuchateller- und Bielersee sind jedoch gewährleistet. Das Hotel unterhalb des Gipfels hat noch geschlossen , wir sind ohnehin noch die Einzigen hier oben. Habe ich Eingangs bereits die geringe Ausprägung des Gipfels erläutert, so bietet sich uns allerdings vom Kammweg aus der atemberaubende Anblick der gen Westen hin steil abbrechenden Kalkfelsen, die diesem Berg eine durchaus alpine Prägung verleihen.

Vom Kammweg zurück, wieder bei Rädern und Rucksäcken angekommen, gelüstet es uns nach einer Einkehr im geöffneten Restaurant an der oberen Liftstation. Eigentlich eher eine Berghütte, vermittelt die Wirtschaft ein angenehmes Ambiente, der Käsekuchen zum Kaffee schmeckt fantastisch! Anschließend geht´s hinunter bis zur ersten Alm, unterwegs treffen wir auf ein paar Wanderer, aber trotz schönem Wetter und Feiertag hält sich die Anzahl der Ausflügler in angenehmen Grenzen. Vor der Alm setzen wir uns auf der Holzbank in die Sonne, um nochmals zünftig zu vespern, im Nachhinein soll sich noch herausstellen, daß wir gut daran taten.

Als wir weiterziehen, geht der ohnehin nur noch schlecht befahrbare, weil ausgewaschene und zerwühlte Feldweg in einen schmalen Wanderweg über, der uns dann bald unter den unzähligen Altschneefeldern vollends verloren geht. Jetzt wird´s abenteuerlich: Abstieg querfeldein durch den Bergwald mitsamt Gepäck und Bikes, Koordination, Kraft und Konzentration sind gefragt, und jede Menge Lungenpower! Firnfelder und schmierige, steile Passagen machen die Sache nicht ganz ungefährlich. Schließlich gelangen wir zu einem Bach, am gegenüberliegenden Hang heißt es nochmals hinauf. Oben stellen wir fest, daß ein weiteres, wenn auch nicht ganz so tiefes Bachtal, überwunden werden muß, um auf das angepeilte Almsträßlein zu gelangen. Als sehr nachteilhaft zeigt sich hier wieder einmal meine oberschwere Vordergabel, die nicht nur das Manko des zu hohen Gewichtes mit sich bringt, sondern auch ein ständiges Ungleichgewicht, da die Gabel das Bike immer kopfwärts zieht. Nach langem Mühen gelangen wir schließlich doch noch auf den gut befahrbaren Schotterweg, passieren eine romantisch - schöne Alm, um kurz vor einer weiteren Alm über Pfadspuren hart nach links wegdirigiert zu werden, denn der Feldweg zieht wieder zurück in Richtung Chasseron. Wir gelangen abermals auf die Kammhöhe und knappe 1450 Meter und treffen auf den Gratweg, der vom Chasseron aus hierherzieht. Hier wären wir also wahrscheinlich herausgekommen, wenn wir die Kammüberschreitung über den Chasseron - Gipfel gemacht hätten. Um die Poeta Raisse zu erreichen, müssten wir zurück in Richtung Chasseron - Gipfel, wir geben dieses Vorhaben kurzerhand auf. Linkerhand befindet sich eine weitere Liftstation, geradeaus geht es steil hinunter über einen Wiesenpfad und der Mäggi wird wieder einmal kräftig durch Mark und Bein geschüttelt.

Als wir das Teersträßchen erreichen, kommen wir allerdings beide wieder auf unsere Kosten: die pfiffige Abfahrt hinunter nach Buttes im Val de Travers ist wieder mal ein Härtetest für unsere Bremsen. Etwas oberhalb der Ortschaft machen wir sogleich einen Rastplatz mit Tisch und Bänken aus, einen kräftigen Mittagshappen haben wir nun auf alle Fälle verdient! Erneut passieren wir Fleuriers, um diesmal der Hauptverkehrsroute durch´s Tal zu folgen. Motiers war damals die Exilheimat von Jean - Jaques Rousseau, es folgen Couvet, Travers und Noiraigue.

Hinter dem letztgenannten Ort geht´s kurz bergauf und beinahe hätten wir das Schild übersehen, das uns zu einem erneuten Höhepunkt unserer Reise bringen soll: rechts hoch in den Wald hinein weist uns ein Schild zum Creux du Van. Hierzu möchte ich kurz erläutern, was man in französischsprachigen Ländern unter einem Cirque versteht: ein halbkreisförmiger Fels- oder Talabschluß, und eben dieser Creux du Van soll ein besonders markanter und beeindruckender sein. Unterwegs treffen wir Dominique, einen Freak, der mit seiner Gitarre gerade wieder abwärts steigt, und in den höchsten Tönen vom Creux du Van schwärmt. Also, nichts wie hoch! Kurz nach einem Brunnen, wo wir nochmals auf Dominique´s Empfehlung hin alle Wasserflaschen füllen (Erinnere: Wasserversickerungen auf Kammhöhen!) gelangen wir zur Ferme des Oreillons, einem malerischen Bauernhof, wo schließlich der schmal werdende Bergpfad über steile Serpentinen in die Höhe zieht.

Demonstrativ binden wir unsere Bikes an das Verbotsschild für Mountainbikes (franz.: VTT) und folgen zu Fuß dem Steiglein durch ein wüstes Areal aus umgestürzten Bäumen und kraterartigen Löchern, neben denen mannshohe Baumwurzeln wie unheimliche Trollfratzen in die Luft ragen. Hier hat der Sturm Lothar eine Schneise der Zerstörung geschlagen. Im Oktober 2000 war ich im Berner Oberland unterwegs, als ich im Abstieg zum Tal von Kandersteg durch eine ähnliche Wüstenei kam. Damals mußte ich allerdings noch über ein unendlich scheinendes Gewirr aus umgestürzten Bäumen, Ästen und Wurzelwerk hinwegklettern und mir so äußerst mühsam meinen Weg talwärts suchen. Hier ist der Weg zwischenzeitlich wieder vollkommen freigeräumt und wir schreiten zügig voran. Als Wegemarkierung dient übrigens das Symbol einer grünfarbenen Hexe, und Dominique hatte uns bereits vorab informiert, daß bei der 14. Hexe das Plateau erreicht ist. Als wir schließlich Hexe Nummer 14 passieren, treten wir durch den Wald ein Stück nach vorne und blicken hinab in den gähnenden Abgrund und einen riesigen, halbkreisförmigen Felsenkessel, der Creux du Van ist erreicht!

Gerade, als wir dem entlang des Schlundes führenden Pfad weiter folgen wollen, taucht eine Gemse zwischen den Bäumen auf, die sich mit einem schrillen Schrei wieder davonmacht. Diese Tiere sind in Mittelgebirgen eigentlich ungewöhnlich, mir ist allerdings eine weitere Region bekannt, wo Gemsen ausgewildert worden sind, nämlich in den Hochvogesen, wo ich in der Gegend der ehemaligen Ferme - Auberge Frankenthal, unterhalb der prächigen Martinswand, bereits zweimal diese Tiere beobachten konnte. Wie der Creux du Van, besitzt auch jener Ort eine prikelnde Mischung aus großartiger Natur und mystischer Atmosphäre.

Doch hier, am Creux de Van, soll´s noch dicker kommen: kaum wenige Gehminuten später treffen wir auf eine vierköpfige Steinbockfamilie die sich ganz und gar nicht scheu zeigt: seelenruhig lassen sich die Tiere von mir aus allernächster Nähe fotografieren, bevor sie sich schließlich gelangweilt zurückziehen. Mir drängt sich die Erinnerung an einen sonnigen Sonntagnachmitag im Alpsteingebirge auf: unterhalb des Altmanngipfels hatte sich ein Steinbock auf einem Felsvorsprung in Position gebracht, den Kopf stolz gen Himmel gereckt, wie ein Bodybuilder vor den entzückten Wanderern posierend, die ihre Fotos schossen, wie auf einer Pressekonferenz. Hier wie dort sind diese Tiere ausgewildert und stehen unter strengstem Naturschutz. Sie werden natürlich nicht bejagt, und da sie wissen, daß sie vom Menschen nichts zu befürchten haben, ist es eben durchaus möglich, sich ihnen fast auf Tuchfühlung zu nähern. Ich glaube allerdings nicht, daß jeder Besucher vom Creux du Van das Glück haben wird, die Steinböcke und Gemsen zu Gesicht zu bekommen. Wir treffen nämlich zur vorgerückten Stunde hier oben ein, die Abenddämmerung hat sich bereits über den Cirque gelegt, es sind außer uns jediglich noch eine vierköpfige Gruppe junger Leute unterwegs, die sich gegenseitig auf exponierten Felsplatten überhalb des Abgrundes fotografieren.

Jenseits der Viehweide, einige hundert Meter vom Felsabsturz entfernt, steht die schöne, alte Ferme - Auberge Le Soliat, wo die Vier ihr Quartier haben. Das parallel zum Abgrund verlaufende Mäuerchen aus aufgeschichteten Natursteinen soll das Vieh vor einem Sturz in den Abgrund bewahren. Wir befinden uns zwar mitten im Naturschutzgebiet, aber wir sind sicher, um diese Uhrzeit kommt hier niemand mehr vorbei. So verbringen wir eine Zeltnacht in schönster Lage. Ich hatte deren schon viele in meiner Karriere als Zeltwanderer, der Creux du Van gehört aber sicher mit zu den großartigsten. In der Steinmauer sind in Abständen enge Durchgänge für die Wanderer gelassen worden, einer davon dient uns jetzt als windsichere Kochnische. Nach dem Abdendessen begeben wir uns abermals vor zu den Klippen, von wo aus der Blick bis hinaus zu den Dörfern im Einzug des Neuenburger Sees (Lac de Neuchatel) reicht. Als die Nacht hereinbricht, leuchtet uns von dort unten ein glitzerndes Lichtermeer entgegen, während die Wipfel des unter uns liegenden Waldes in fahles Mondlicht getaucht werden.

Am nächsten Morgen wird frühzeitig das Zelt abgebaut, und selbstverständlich wird, wie immer, nichts zurückgelassen, was auf unsere nächtliche Anwesenheit hindeuten könnte. Wir haben beschlossen, den Kocher heute morgen kalt zu lassen, und uns ein Frühstück in der Ferme - Auberge zu gönnen. Dort werden wir herzlich empfangen, wir können uns allerdings des Eindrucks nicht erwehren, daß es hier in der vergangenen Nacht offensichtlich spät geworden war. Ich kenne das Gefühl noch selbst aus meiner Aktivzeit, wenn man mit verkatertem Schädel aufsteht, und, anstatt sich in die Fabrik oder ins Büro quälen zu müssen, mit denjenigen zusammenbleiben kann, mit denen man zuvor gezecht hatte. Einerseits sind da bereits die Nachwehen des Alkohols, andererseits ist man irgendwie noch aufgekratzt und zu Blödeleien aufgelegt. So geht es denn heute morgen auf Soliat schon recht heiter zu.

Herzhafter Jurakäse, Honig und Marmelade, dazu selbstgebackenes Brot in beliebiger Menge und eine rechte Kanne Kaffee für 13 Franken pro Mann, das geht schon in Ordnung! Im Übrigen, so erfahren wir von unseren Schweizer Tischnachbarn, hätte man hier für 49 Franken pro Kopf mit Abendessen und Frühstück im Mehrbettzimmer übernachten können. Das Haus selbst ist ein uralter Jurabauernhof, alles ist aus altem Holz gezimmert, es wird mit Holz gekocht und hinter uns ertönt das heimelige Knacken des mollig wärmenden Holzofens. Meine Bemerkung beim Hereintreten "Il fait froid, n´est pas?" wurde mit schallendem Gelächter quittiert, nein es ist nicht kalt. Obwohl es auch mir nicht ganz ernst war damit, vielmehr als banale Phraseologie gedacht, läßt dieses entschiedene Nein der Wirtin erahnen, was man hier oben wirklich unter kalt versteht, denn allgemein gilt der Jura als winterkaltes Gebiet, d.h. relativ "normale" Temperaturen zur warmen und den gemäßigten Jahreszeiten, im Winter allerdings schweinekalt! Bemerkenswert fand ich auch, daß sich die Deutschschweizer hier, in der sogenannten welschen Schweiz, offensichtlich genauso fremd fühlen, wie wir.

Frisch gestärkt und in bester Gemütsverfassung setzen wir unsere Fußwanderung fort, wo uns der Pfad rings um den Felskessel herumführt, der höchste Punkt "Le Soliat" liegt auf etwa 1450 Metern, die Ferme - Auberge, in der wir gefrühstückt haben ist übrigens nach ihm benannt. Die Schweizer vom Nebentisch hatten uns übrigens gesagt, daß man angeblich vom Chasseron aus einem durchgehenden Kammweg bis hierher folgen kann. Die Halbkreiswanderung eröffnet uns Ausblicke auf Felsabgründe, auf denen wir wenige Minuten zuvor selbst noch gestanden haben, unten im Kessel wird der schöne Bergwald von aschgrauen Geröllfeldern eingerahmt, von denen aus dann die Felswand senkrecht emporschießt. In Serpentinen geht es schließlich wieder bergab, in den Wald hinein, bis wir auf einen Feldweg stoßen. Ein kleines Abri, wie ich sie aus den Vogesen kenne, bietet Wanderern ein sicheres Dach über dem Kopf und man kann sich gemütlich an einem Holztisch niederlassen. Eigentlich sind diese Hüttchen nicht zur Nächtigung vorgesehen, allerdings habe ich auf meinen Vogesenwanderungen des Öfteren schon derartig von diesen Schutzhüttchen Gebrauch gemacht, und auch hier hätten zur Not zwei Mann mit Schlafsack und Isomatten auf dem Boden schlafen können.

Im Abstieg bieten sich weiterhin faszinierende Perspektiven auf die nackten Kalkwände des Creux du Van, zwischen August und Dezember soll hier auch das Klettern erlaubt sein. Allerdings mache ich auf Anhieb, außer vielleicht am südwestlichen Abschluß des Cirque, wo eine Rinne auszumachen ist und die Felsen mehr Konturen gewinnen, keine einzige nur halbwegs akzeptable Route für Durchschnittskletterer aus. Von hier unten sehen wir erst, daß die aalglatte Felswand gelegentlich sogar überhängend ist. Irgendwo am Wandfuß befindet sich eine senkrechte Einbuchtung, vielleicht sogar eine kleine Grotte. Vermutlich ist dies die Stelle, wo sich Rousseau und andere Prominente mit Namen verewigt haben. Die Nische ist entweder durch Abseilen über die Wand oder aber durch mühsames Aufsteigen über´s Geröllfeld erreichbar. Wenn wir etwas mehr Zeit hätten, würden wir Letzteres wohl erwägen. Sich über die Felswand abzuseilen wäre für mich persönlich ein schaurig - reizvoller Gedanke!

Wir erreichen den wunderschönen Fachwerkbauernhof "Ferme Robert", in dessen Nähe sich eingehende Erläuterungen zu Geschichte, Geologie usw. des Creux du Van auf einer großen Tafel finden. Wir folgen dem Schild Richtung "Les Oreillons" wo wir gegen halb zwölf eintreffen, unsere Gäule losbinden und talwärts rauschen, nicht ohne vorher einen Zwischenstop am Bergbrunnen einzulegen, um die Trinkflaschen mit köstlichem Jurawasser aufzufüllen.

Das Val de Travers, welches weiter oben eigentlich weit ausladend, in gewisser Hinsicht wenig juratypisch, geformt ist, wird jetzt immer enger, die aufschießenden Felswände rücken näher an uns heran und die dramatische Abfahrt durch die Areuse - Schlucht wird zum tollen Erlebnis, sowohl in fahrerischer als auch in landschaftlicher Hinsicht. Schließlich spuckt uns das enge Tal aus und wir finden uns an den fast mediterran erscheinenden, weinrebenbestandenen Hängen des Neuchateller (Neuenburger) Sees wieder, passieren reiche Ortschaften, bis wir in Neuchatel endgültig das Seeufer erreichen. Auf einer Bank direkt an der mondänen Seepromenade gönnen wir uns eine Vesper, dann geht´s weiter, in Richtung Bieler See. Irgendwo im nördlichen Außenbezirk der Stadt mache ich das Gebäude Von RSR (Radio Swiss Romande) aus. Mit Hilfe dieses Radiosenders versuche ich zuhause ständig, mein Französisch aufzubessern. Wir folgen dem Radweg entlang des Thielle - Kanals, der den Bieler - mit dem Neuenburger See verbindet. Flaches Gelände, Sonntagsspaziergänger, der eine oder andere Binnenfrachter dümpelt träge vor sich hin. Westlich von uns steigt die Jurakette empor, besonders sticht ein kahler, langgestreckter Höhenzug hervor: der Chasseral (1607 m), dessen nahezu abgeflachter Gipfel durch einen hohen Turm und ein Hotel verbaut ist. Langgezogene Altschneefelder sind noch zu erkennen, im Vergleich zum Chasseron wirkt dieser Berg auf mich allerdings wenig attraktiv, doch ich will nicht allzu schnell vorverurteilen, nicht solange ich noch nicht selbst oben gewesen bin. Als Aussichtsberg hat er jedenfalls einen legendären Ruf!

Der Chasseral wird allerdings noch warten müssen, denn unsere Reise neigt sich dem Ende zu, wir haben Biel (Bienne), die zweisprachige Stadt am Nordende des Bieler Sees als Zielort veranschlagt. Weiter würden wir denn auch nicht mehr kommen, schließlich müssen wir noch die Rückreise mit dem Zug mit ins Kalkül ziehen. Bevor wir den Bieler See erreichen, halten wir noch kurz auf dem Marktplatz von Le Landeron. Das malerische Städtchen mit mittelalterlichem Ortsbild erinnert uns stark an das von unserer Heimatstadt Singen nur wenige Kilometer entfernte Stein am Rhein (Kanton Schaffhausen). Am Südende des Bieler Sees bieten sich für den Radfahrer zwei Alternativen: entweder den schnelleren Weg am Westufer entlang, in dessen Nähe auch die stark frequentierte Autobahn verläuft, oder aber das ruhigere Ostufer. Aus Zeitgründen bleiben wir auf der Westseite. Habe ich Eingangs noch erläutert, daß die Srpachgrenzen in der Schweiz oft abrupt verlaufen, so trifft das meist auf die Bergregionen zu, wo Bergketten wie natürliche Riegel ein Tal vom anderen wegsperren. Hier in der Bieler Gegend, ebenso wie beispielsweise im Kanton Freiburg (Fribourg), findet der Übergang gleitend statt. Die Ortschaften am Ostufer tragen alle schon schwyzerdütsche Namen, während das südliche Westufer noch frankophon bleibt, die Schilder tragen allerdings alle bereits die deutschen Übersetzungen. Zum Nordende hin verhält es sich dann umgekehrt: oben deutsch, darunter die französische Übersetzung.

Als wir am Südende des Sees vorüberziehen, erscheint uns dieser ziemlich schmal. Ein späteres Kartenstudium ergibt, daß der See hier durch eine Halbinsel gespalten ist. Die Petersinsel war übrigens Rousseau´s letzter Aufenthaltsort vor seiner endgültigen Übersiedlung nach England. Nach eigenem Bekunden hatte sich der Philosoph nirgendwo zuvor wohler gefühlt, doch dieses Mal war´s eine Verkrachung mit den Oberen, die ihn veranlaßte, der Schweiz endgültig den Rücken zu kehren.

Nun folgt ein Weinort dem anderen, wunderschöne, alte Häuserzeilen, dahinter enge, verwinkelte Gassen, die Uferseite ist von blühenden Gärten gesäumt, dann und wann passieren wir eine Anlegestelle oder einen kleinen Privathafen. Das Klischee von der reichen Schweiz wird hier wieder lebendig, welches im Jura, allerdings auf eine sehr romantische Weise, im wahrsten Sinne mancherorts etwas abgeblättert war.

Biel ist, wie gesagt, zweisprachig und zwar im einem etwaigen Verhältnis drei fünftel (schwyzerdütsch) zu zwei fünfteln (frankophon). Leider bleibt uns keine Zeit mehr für eine ausgiebigere Stadtbesichtigung. Wie´s das Schicksal so fügt, erspähen wir, als wir auf dem Bahnsteig den Zug Richtung Basel erwarten, alte Bekannte: die Bikergruppe, die mit uns am Freitag in Ste. Ursanne ausgestiegen war und die die Richtung französischen Jura preferiert hatte, trifft buchstäblich in letzter Minute ein, um ihren Zug Richtung Zürich gerade noch zu erreichen. Schade, wir hätten gerne noch mit ihnen unsere Reiseerlebnisse ausgetauscht.

Die Rückfahrt führt über das Jurastädtchen Moutier, auch diese Gegend würde sich ganz offensichtlich zu Exkursionen lohnen, wie so viele andere Gebiete des doch recht umfangreichen Gebirges. Hinter uns liegen jedenfalls vier herrliche Tage, und ich wage zu sagen, es war die bislang abwechlungsreichste Mittelgebirgstour meines Lebens. Ganz sicher öffnet die Kombination Mountainbike - Wandern für die Zukunft neue Horizonte, und ganz sicher auch wieder mal im Jura!

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