Sonntag, 17. Dezember 2006

Wenn es Winter wird in der Tatra

Zwischen den Jahreszeiten durch die Hohe Tatra und die Randgebiete der Westlichen Tatra

Gar manche Reise bleibt nicht ohne Folgen. So auch nicht die, welche mich Ende September 1998 bis in die Slowakei führte, um dort die Bergwelt der Hohen Tatra zu erkunden. Verschiedene Einflüsse hatten diese Idee reifen lassen: im Jahr zuvor hatte ich in Begleitung meiner Frau, meiner Tochter und meiner Schwägerin zum ersten Mal die tschechische Republik besucht, wo wir eine Woche im Einzugsgebiet des Riesengebirges zubrachten. Zwei Monate später trieb es mich erneut nach Tschechien, um mich einer Wanderung durch die Sumava (dt. Böhmerwald) zu widmen. Von der Hohen Tatra kannte ich bislang nur den Namen und die ungefähre geographische Lage. Ich wurde jedoch bald in der städtischen Bücherei fündig, wo mir zwei Wanderführer in die Hände fielen, die mir einiges an Informationen und noch mehr Lust, dorthin zu reisen, vermittelten. Hinzu kam noch , daß mir ein Bekannter von einer Reise in die Slowakei erzählt hatte, wobei er bei der Anfahrt den Nachtzug ab Prag benutzt hatte. So entstand also die Idee, mit dem Schönen - Wochenend -Ticket bis zur bayrisch - tschechischen Grenze (Bayrisch - Eisenstein/Zelezna Ruda) zu reisen, den bereitstehenden Zug nach Pilsen zu nehmen, dort umzusteigen nach Prag, von wo aus dann der Nachtzug bis Poprad/Tatry geht (sämtliche Züge in Richtung Kosice bzw. Medzilaborce halten dort). Dieser ersten Reise sind seitdem vier weitere gefolgt, wobei ich bei jeder Fahrt neue Eingebungen und Argumente fand, abermals den langen Weg auf mich zu nehmen und in die slowakische Bergwelt zurückzukehren. Ich will hier ausführlich von meiner letzten Reise berichten, die praktisch als Leitfaden dienen soll, wobei ich immer wieder die Erinnerungen aus den vergangenen Unternehmungen einfließen lassen möchte, und ich somit natürlich auch auf andere spektakuläre Gebirgsregionen, wie das Slovensky Raj, sowie Mala Fatra und Vel´ka Fatra eingehe, die ich bereits besucht habe, um somit das Gesamtbild der nordslowakischen Gebirgswelt abzurunden. Da vor allem in Westdeutschland ein erhebliches Wissensdefizit herrscht, was die tatrischen Gebirge im Detail und die Karpaten allgemein angeht, will ich zunächst mein Vorwort auch dazu benutzen, dem Leser einen groben Einblick in die geographischen Gegebenheiten und andere wissenswerten Fakten über diese osteuropäische Gebirgsregion zu vermitteln.
Der sogenannte Karpatenbogen zieht sich über etwa 1300 km Länge von Zentralrumänien bis zur slowakisch - tschechischen Grenze, und schlägt somit, was die Längenausdehnung anbelangt, die Alpen, kann jedoch, was die Höhe anbelangt, mit ihnen nicht konkurrieren. Meist werden nur Mittelgebirgshöhen erreicht, wobei ausgedehnte Waldgebiete vorherrschen, in denen, neben vielen anderen Wildtieren , teilweise noch reiche Populationen von Bären und Wölfen zu Hause sind, besonders in den Ostkarpaten. Die Südkarpaten, die sich nur auf rumänischem Gebiet erstrecken und auch den Beinamen transsilvanische Alpen tragen, bilden, nach der Tatra – Region, die höchsten Gebirgsteile in der gesamten Karpatenkette. Bekannt sind dort die Massive von Retezat, Fagarasch, Piatra Craiului (Königstein) und Bucegi, wobei letzteres auf seiner Westseite über teils dramatische Felswände zum Prahova - Tal abstürzt, welches wohl die Grenze zu den Ostkarpaten markieren dürfte, und wo der Karpatenkamm auch seine erste Biegung macht, wobei er seine Längsaudehnung, statt wie bisher von West nach Ost, nunmehr von Süd nach Nordwest fortführt. Wie bereits angedeutet, erreichen die Ostkarpaten nicht mehr die Höhe der südlichen Massive, wobei die Gebirgsstöcke Rodna, Calimani und Ceahlou die Ausnahmen bilden. Auf ukrainischem Territorium gehen die rumänischen Ostkarpaten schließlich nahtlos in die sogenannten Waldkarpaten über, wo mit Ausnahme der Goverla (2058 m), die 2000 Meter - Marke stets unterschritten bleibt. Auf polnisch - slowakischem Gebiet senkt sich die Druchschnittshöhe in den sogenannten Ostbeskiden vergleichbar zu Nordschwarzwald - Höhen. Die Karpaten pendeln sich jetzt immer mehr von Nord - West zur Ost - West - Richtung ein, um somit ihre Bogenform zu vervollständigen. An die nunmehr noch verbleibende Hügellandschaft schließt sich dann, sich abrupt auftürmend, die Tatra - Region an, wobei der - von Osten her kommend - erste Gebirgsstock, die Hohe Tatra, die höchsten Gipfel der gesamten Karpaten einschließt. Während die sich anschließende Westliche Tatra noch Hochgebirgscharakter zeigt, dezimieren sich die weiter westlich folgenden Bergregionen wie Choc, Mala Fatra u. a., wiederum auf Mittelgebirgsniveau. Durch die Einschiebung der Ebene um Poprad, bzw. dem vortatrischen Becken (Podtatranska kotlina), erfahren die Karpaten eine Nord - Süd - Trennung, wobei sich, südlich dem Tatramassiv gegenübergestellt, die Niedere Tatra bis über 2000 Meter aufbäumt, die jedoch, im Gegensatz zu seinem wild zerklüfteten nördlichen Pendanten, schwach gegliedert ist und sich in sanften Wellenformen parallel zur Hohen Tatra von Ost nach West hinzieht. Südlich der Niederen Tatra (Nizke Tatry) breitet sich schließlich das Slowakische Erzgebirge aus, ein weitläufiges Mittelgebirge, das im Süden ins Pannonische Becken abfällt, jene fruchtbare Tiefebene, in der auch die slowakische Haupstadt Bratislava (Preßburg) liegt. Jenseits der Landesgrenze, auf magyarischem Gebiet, ist uns das Pannonische Becken besser unter dem Namen Ungarische Tiefebene geläufig. Die Westbeskiden und die Weißen Karpaten schließen das Gebirge im Westen ab. Somit gehören die tschechischen Gebirgsgruppen wie das Altvater-. oder das Riesengebirge nicht mehr zu den Karpaten, sondern zu der eigenständigen Gebirgskette der Sudeten.
Das Wetter in den östlichen Karpaten ist vom Kontinentalklima geprägt, und je weiter man nach Westen gelangt, desto mehr können sich auch noch Ausläufer des das Deutschland - Wetter prägenden Atlantikklimas bemerkbar machen. Das Kontinentalklima zeichnet sich aus durch kurze, heiße Sommer, und lange, mitunter extrem kalte Winter, d.h. die Unterschiede zwischen den Jahreszeiten sind im Allgemeinen krasser als bei uns.
Generell kann man sagen, daß große Teile der Karpaten touristisch immer noch kaum oder überhaupt nicht erschlossen sind. Ich sehe darin für Leute, die abseits ausgetretener Pfade Neues entdecken wollen, improvisationsfähig und naturbegeistert sind und sich notorisch von fremden Völkern und Sprachen angezogen fühlen - unter den Voraussetzungen von Bergerfahrung, Orientierungssinn und entsprechender Ausrüstung - ein ergiebiges Betätigungsfeld.
Bestimmt nicht zu den unerschlossenen Gebieten gehört die Hohe Tatra, dafür handelt es sich aber wohl unbestritten um das Schönste und noch dazu das Höchste unter allen Karpatenmassiven. Mit nur 26 Kilometern Kammlänge trägt die Hohe Tatra auch den Beinamen "das kleinste Hochgebirge der Welt". Doch auf diesem engen Raum dängt sich eine Vielzahl landschaftlicher Prunkstücke, wie sie sich woanders nur auf einem Vielfachen der hier gegebenen Platzverhältnisse wiederfinden. So schneiden sich mehr als 30 Täler in das Gebirge ein, und die starke Gliederung offeriert eine Unzahl meist schroffer, zackiger Felsgipfel, die oft dicht, aber zergliedert, beieinanderliegen. Beeindruckend ist auch die Vielzahl an großen und kleinen Bergseen, die, ebenso wie die vielen Stufentäler, durch die Ausschleifungen eiszeitlicher Gletscher entstanden sind. Touristisch ist die Hohe Tatra, wie bereits erwähnt, bestens erschlossen. Eine Ringstraße, die übrigens mit dem Verlauf ehemaliger Schmugglerpfade übereinstimmen soll, führt im Halbkreis um´s Gebirge herum, und verbindet somit die Ortschaften der Süd - Ost - und Nordseite, sowie die Slowakei mit Polen (Busverbindungen mit Zakopane). Es gibt ein vorbildlich markiertes, dichtes Netz von wunderschönen Wanderwegen, die das Spektrum einfacher Familienwanderwege bis hin zu kniffligen Klettersteigen (Orla Perc!) abdecken. Die rot markierte Tatranska magistrala läuft sozusagen als Südachse vom westlichen Ende der Zapadne Tatry (Westliche Tatra) bis zum Nordostzipfel der Hohen Tatra. Es handelt sich hierbei um eine einfache Route, die von jedem Durchschnittswanderer problemlos im Rahmen einer Mehrtagestour gemeistert werden kann, und die, überwiegend in mittlerer Höhenlage verlaufend, das Gebirge südlich tangiert, jedoch nicht ins Gebirgsinnere führt. Selbstverständlich ist es jederzeit möglich, von der Magistrala aus entsprechende Abstecher zu machen. Desweiteren lassen sich die Wanderwege untereinander nach Gusto kombinieren, und man kann sich somit Tage oder gar Wochen dauernde Exkursionen selbst zusammenschustern. Es gibt, außer in der Westlichen Tatra, ausreichend Berghütten, und besonders in den größeren Orten wie Stary Smokovec oder Tatranska Lomnica sind genügend Hotellerie und Fremdenzimmer vorhanden, trotzdem ist die Tatraregion, mit Ausnahme vielleicht der polnischen Seite, noch angenehm ruhig und nicht zu sehr überlaufen. Es gilt zu beachten, daß die gesamte Tatraregion, sowohl auf slowakischer, als auch auf polnischer Seite Nationalpark ist, was die Befolgung des entsprechenden Reglements erfordert.

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Recht spät bin ich dran mit meiner Wanderwoche, die die letzten Oktobertage, aber auch schon drei Tage im November einschließen soll. Ich habe auch schon ein etwas mulmiges Gefühl, ob das noch etwas Gescheites wird, so spät im Jahr in die Tatra aufzubrechen. Als ich dann am Sonntag Morgen gegen Sieben in Poprad aus dem Nachtzug steige, und meinen Blick hinüber auf dieses so schlagartig aus der Poprader Ebene hinaufschießende Gebirgsmassiv richte, bin ich allerdings vorerst beruhigt: eine zarte Schneekappe, wie gestreuter Puderzucker, ziert die Gipfel, das Gelände scheint noch überwiegend gut begehbar zu sein. In diesem Falle geht´s also nur noch darum: Hoffentlich hält´s! Gerade mal acht Uhr ist es, als ich schließlich in Tatranska Lomnica, dem Ausgangspunkt meiner diesjärigen Wanderung, im bereits geöffneten Restaurant des Hotels "Slowakia" beim Frühstück sitze. Ziel der ersten Etappe soll die Berghütte Chata pri Zelenom (dt.: Karfunkelturmhaus) sein, von wo aus ich dann die Besteigung des Jahnaci stit (2230 m) beabsichtige, und somit sozusagen zum nordöstlichen Außenpfeiler des Tatra - Hauptkammes greife, der, ob seiner exponierten Position, zudem den Ruf eines außergewöhnlichen Aussichtsberges genießt. Zunächst führt mich der Weg durch Wald, zwischendurch öffnen sich auf verschiedenen Lichtungen Ausblicke zum mächtigen Lomnicki Stit, dem zweithöchsten Berg der Tatra und der Slowakei überhaupt, zu dessen Füssen ich jetzt praktisch vorbeiziehe. Nach Passieren zweier Skihotels hört die bisher gelbe Markierung auf und blau leitet dann in geänderter Richtung (jetzt Nord) durch wohlduftenden Tannenwald. Unterwegs kreuzt ein Mountainbike - Trail mit dem Wanderweg, auch hier ergibt man sich den Trends der Zeit. Dort, wo die blaue Markierung erneut mit gelb zusammentrifft, betrete ich das Dolina Kezmarskej Bielej vodi (Dolina steht slowakisch für Tal). Hier begleitet mich dann auch der gleichnamige Gebirgsbach, bis ich schließlich mittels der gelben Markierung einem Zufluß dieses Baches folge, dem Zeleny potok (potok = Bach), der mich schließlich ins Dolina Zeleno pleso (dolina = Tal, pleso = See) führt, wo sich mir dann mit Erreichen der Krummholzzone ein Bild bietet, das eigentlich schon die wesentlichsten Charaktere dieses Gebirges beinhaltet und mir mit einem Mal wieder vor Augen führt, warum die Hohe Tatra unter all meinen bislang besuchten Gebirgen schon fast so etwas wie mein liebstes Kind geworden ist. Die Zeit drängt die Erinnerungen oft etwas zurück, und auf der Hinfahrt habe ich mich schon gefragt: ist es denn wirklich so schön dort, oder waren es vielleicht die von mir so gerne getrunkenen morgendlichen türkischen Kaffees, die in mir wohl irgendwelche besonderen Hormone freigesetzt hatten und mich somit das Ganze vielleicht etwas zu verklärt hatten wahrnehmen lassen? Von wegen, der Beweis liegt direkt vor mir, angefangen bei der herrlichen und vielleicht einzigartigen Farbenpracht, die die herbstliche Tatra zu bieten hat, und von der ich schwöre, daß ich das so noch nirgendwo anders gesehen habe: das Grün der Wald - und Knieholzzone wird abgelöst durch Grasbewuchs in verschiedenen gelb - braunen Farbnuancen, die von leuchtendem Strohgelb über erdiges Hellbraun bis hin zu tiefem Rotbraun reichen, immer wieder von den grasgrünen Flecken einzelner Knieholzinselchen durchsetzt, ja selbst die jetzt bereits mit einer dünnen Schneeschicht überzuckerten und daher noch alpiner erscheinenden Granitfelsen und die zahlreichen Blockfelder haben ihre aschgraue Grundierung mit einer Färbung von Grünspan vermischt, bedingt durch die auf ihnen wuchernden, hauchdünnen Moosflechten. Zwischen den das Krummholz bildenden Latschenkiefern gedeihen Sträucher mit knallroten Beeren (die sind aber nur für die Vöglein, gelle!), der gurgelnde Bergbach neben mir wird an seinen Ufern und auf den herausragenden Gesteinsbrocken von größeren und kleineren Stalagtiten und anderen skurrilen Formen geziert, die das Eis bereits gebildet hat. Den Talabschluß bildet ein enormer Felskessel, wo Wände 1000 Meter vom Boden in die Höhe schießen, unter anderem die der beiden Kezmarsky - Gipfel, des Cierny stit und des Pysny stit, oder aber, diesen Talzirkus in besonderer Art prägend, die exponiert auf der Nordseite hochragende, wie ein riesiger Zeigefinger sich gen Himmel reckende, Felssäule der Jastrabia veza, deren deutsche Namensgebung durch die früher im slowakischen Tataragebiet ansässigen Zipser Sachsen, Karfunkelturm, sich dann auch auf die direkt unterhalb der Felsarena, inmitten dieser Naturdramatik thronenden Berghütte bezieht, dem Karfunkelturmhaus (slowak. Name:Chata pri Zelenom plese). Der Überschwenglichkeiten noch nicht genug, stürzen die steil abfallenden Kare der umliegenden Felswände direkt hinab in den Bergsee Zelene pleso (deutscher Name: Grünsee), der gleichfalls zu Füßen der Berghütte liegt. Das Berghaus selbst steht auf 1551 Metern, und ein guter Teil des Zugangsweges ist ab der Knieholzzone stellenweise vereist und trägt bereits eine leichte Schneeauflage. Die im Sommer wild die Wände hinunterstürzenden Fallwasser sind allesamt schon zu Eissäulen erstarrt, aber irgendwo da hinten, zwischen den Gipfeln, hört man noch ein dumpfes Rauschen, wo ein Wildbach immer noch der Kälte trotzt, und es doch noch schafft, seine Wasser unbehelligt den Berg hinunterstürzen zu lassen. Wenn ich mich etwas umdrehe, sehe ich die in wunderbaren Braun - und Grüntönen auftrumpfende Bergkette der Belaer (Weißen) Tatra, deren Spitzen mit Kalk- und Dolomitfelsen gekrönt sind, die ebenfalls bereits Weiß tragen. Sie sind allesamt weniger hoch , als die Gipfel der Hohen Tatra, jedoch nicht minder interessant. Dieser im Nordosten, quer zum Hauptkamm der Hohen Tatra liegende, 14 Kilometer lange Gebirgszug ist übrigens seit dem Jahre 1978 aus Naturschutzgründen komplett für Wanderer und Bergsteiger gesperrt. Die einzige Möglichkeit, dieses elegante Massiv wenigstens noch am Rande zu streifen, besteht in der Überschreitung des Verbindungssattels Kopske sedlo (1750 m), übrigens meine allererste Wanderetappe im Tatragebiet, als ich Ende September 1998 zum ersten Mal dort aufkreuzte. Damals war ich im kleinen Ort Tatranska Kotlina aufgebrochen, hatte dann den besagten Sattel überquert, um schließlich auf der Nordseite der Hohen Tatra, im Goralendorf Javorina, diese nicht allzu schwere, aber wunderschöne Tagestour zu beschließen. Wie oben schon erwähnt, sind die Hauptunterscheidungsmerkmale zwischen Hoher und Belaer Tatra in erster Linie im unterschiedlichen Gestein und in der geringeren Durchschnittshöhe der Weißen Tatra zu finden, des weiteren sind dort auch häufig Tropfsteinhöhlen und Karsterscheinungen anzutreffen. Die Nordseite der Hohen Tatra, die bei der Kopske - sedlo - Überschreitung schließlich erreicht wird, bietet übrigens dem Besucher einen kulturellen Leckerbissen: hier befindet man sich im Siedlungsgebiet der Goralen, eines ethnisch eigenständigen Volksstammes mit eigener Kultur und eigener Sprache. Dörfer wie Zdiar, Mala Frankova, Vel´ka Frankova oder Osturna sind von einem besonderen Baustil geprägt. Prächtige Holzhäuser mit reichen, handgeschnitzten Verzierungen gibt es dort zu sehen, die auf der slowakischen Seite obendrein noch bunt bemalt sind, während auf der polnischen Seite, wo sich das Goralen - Siedlungsgebiet fortsetzt, die kunstvollen Holzkonstruktionen unbemalt bleiben. Man spricht in diesem Zusammenhang übrigens auch vom "Zakopane - Baustil", benannt nach dem Hauptort und touristischen Zentrum der polnischen Tatra. Bei meinem ersten Tatraaufenthalt hatte ich im Rahmen einer Wanderung die Gelegenheit, mir einen Eindruck von den slowakischen Goralendörfern zu verschaffen. Wer übrigens Sonntag Morgens einen der Busse in Richtung dieser Dörfer nimmt, wird wahrscheinlich das Glück haben, vor allem die älteren Goralen in traditioneller Tracht anzutreffen, besonders vor und nach dem Kirchgang. Die Frauen tragen weiße Kopftücher, schwarze Schaftstiefel und eindrucksvolle, handgenähte Trachten, während bei den Männern vor allem die eigenartigen Ledermützen auffallen.
Als ich nun den Gastraum der Zelenom - Hütte betrete, ist dieser gerammelt voll von Tageswanderern, die sich hier mit einer Mahlzeit oder einem heißen Getränk stärken, um alsbald wieder ins Tal zurückzukehren. Ich sichere mir sogleich einen Schlafplatz, erleichtere mir meinen Rucksack, und mache mich schließlich auf den Weg zum Jahnaci stit, dessen Gipfel übrigens von der Hütte aus nicht einzusehen ist. Die Chancen, dort oben eine gute Aussicht genießen zu können, sind heute eher dürftig, eine graue Wolkendecke hängt hoch über mir, und weiter oben sieht es arg nach Nebel aus. Der Aufstieg selbst bereitet mir trotzdem Freude, wobei mir dann ab einer gewissen Höhe das Anlegen der Steigeisen sinnvoll erscheint, um den Gipfel unfallfrei zu erreichen. Oben dann, wie befürchtet, Waschküche pur! Das Verharren zu einer Gipfelvesper ändert leider auch nichts daran, der Nebelvorhang will sich leider nicht lichten, und somit entgeht mir schließlich der Ausblick von einem der meistgerühmten Panoramaberge der gesamten Tatra. Solcherlei Gipfeleroberungen habe ich schon etliche hinter mir, es bleiben dies dann eher Trophäensiege, die man sich wie einen Skalp an den Gürtel hängt, der Leser sollte sich dennoch vor Augen führen, daß ich, wie viele andere auch, den Alpinismus auch als sportliche Herausforderung betrachte, und so kann mir selbst ein Gipfelsieg im Nebel oder unter anderen widrigen Verhältnissen durchaus eine gewisse Genugtuung verleihen. Eine ähnliche Situation hatte ich übrigens bereits vor zwei Jahren in der polnischen Tatra erlebt, als ich das riesige, stählerne Gipfelkreuz des Giewont, dem Hausberg des bekannten Ferienortes Zakopane, der ebenfalls für sein außergewöhnliches Panorama bekannt ist, im zähen Nebel erreicht hatte. Kaum hatte ich den Gipfel wieder verlassen, verzogen sich die Nebelschwaden und die Sonne schien, derweil ich den ganzen Morgen im Regen zugebracht hatte. Ich ließ mich damals nicht verdrießen, und war dann vom Sattel unterhalb des Berges auf der Gegenseite erneut aufgestiegen, wo ich dann auf einem Gratweg verschiedene Gipfel überschritten hatte, allesamt weniger bekannt, als der Giewont, aber dennoch wunderschöne Aussichten bietend, auch hinüber zum Giewont selbst, dessen auffallende Form und die exponierte Lage auch schon einen Blick wert sind, und übrigens in verblüffender Weise Ähnlichkeit mit der Form des Berges "La Bufa" (= spanischer Wassertrinkschlauch, Name bezieht sich auf das Aussehen des Berges), dem Hausberg der zentralmexikanischen Stadt Zacatecas, aufweist. Auf dem Grat hatte ich dann auch noch alte Bekannte getroffen, zwei junge Herren aus Krakau, mit denen ich auf der 5 - Seen - Hütte das Zimmer geteilt hatte. Auf dem berühmt - berüchtigten Klettersteig Orla Perc (dt.: Adlerweg) hatten wir, die beiden von der einen Seite, ich von der anderen kommend, gemeinsam Tee getrunken, um schließlich abends, auf der Murowaniek - Hütte, abermals zusammenzutreffen. Ich habe zwar die Namen der beiden vergessen, nie aber den Witz und die Schlitzohrigkeit, besonders dieses verrückten Krakauer Kellners, den man getrost als Meister der Unterhaltungskunst bezeichnen kann. Das erneute Zusammentreffen auf dem Grat oberhalb der Kondratowa - Hütte sollte schließlich unser letztes sein, bevor die beiden sich in Richtung Westtatra aufmachten, während ich mich noch mit der Idee trug, den zweiten Teil des Adlerweges zu begehen, auf den ich aufgrund des miserablen Wetters an jenem Tag hatte verzichten müssen und ich somit zum recht einfach zu besteigenden Giewont aufgebrochen war. Heute noch befindet sich das Abschiedsfoto, das eben auf jenem Kamm bei unserem letzten Treffen gemacht wurde, in meiner Diasammlung.
Als ich jetzt wieder vom Gipfel des Jahnaci stit zurückkehre, bestaune ich die ungewöhnliche Oberfläche des Grünsees. Er ist von einer leichten Eisschicht überzogen, die an verschiedenen Stellen unterschiedliche Stärke aufweist. In eigentümlich hellen und dunklen Abstufungen und Flecken erscheint der See, so, als ob jemand einen Schuß Milch hineingegeben und nicht umgerührt hätte. Es ist jetzt noch nicht einmal halb fünf, und es dämmert bereits, eine Tatsache, der ich in den kommenden Tagen Rechnung tragen muß. Ich setze mich noch ein Weilchen auf eine der Holzbänke hinter der Hütte, See und Felswände direkt vor mit, und genieße noch etwas die Ruhe der hereinbrechenden Nacht. Inzwischen ist es auch drinnen im Gastraum ruhig geworden, die Tagesgäste sind allesamt schon abgewandert, und ich sitze allein bei Schnitzel mit Pommes Frites. Mein Zimmer teile ich mit zwei weiteren Personen, wobei der ältere Knabe, mit dem ich schon vor der Besteigung zusammengetroffen war, ganz schön die Pfanne voll hat, und als ich den Schlafraum betrete, schlägt mir eine üble Alkoholfahne entgegen. Trotzdem verbringe ich eine geruhsame Nacht.
Beim Frühstück um halb Acht positioniere ich mich direkt neben das große Fenster, das mir mit seinem Panorama in angenehmer Weise den Appetit anregt. Ich habe mir für heute einiges vorgenommen, so soll das Ziel für den Abend die Zbojnicka - Hütte sein, die von hier aus doch in einiger Enfernung im Kerngebiet des Tatra - Hauptkammes, auf der oberen Talstufe des Vel´ka Studena dolina (= großes, kaltes Tal, Zipser Originalname jedoch Großes Kohlbachtal) steht. Am Standplatz dieser Hütte war ich übrigens schon beim letzten und beim vorletzten Tatraaufenthalt vorbeigekommen. Bei meinem ersten Tatra - Aufenthalt war ich mit zwei Polen , von der im benachbarten Mala Studena dolina (kleines kaltes/Kohlbachtal) gelegenen Teryho - chata ausgehend, über den Priecne sedlo - diesem nur in einer Richtung zur Begehung erlaubten, mit der längsten Kette der Tatra versicherten, einzigen Übergang zwischen den beiden Hochtälern - hierhergekommen, um nur noch die verkohlten Reste der erst kürzlich niedergebrannten Hütte vorzufinden. Als im Jahr darauf mich mein Weg abermals an diesem Ort vorbeiführte, war die neue Hütte - genau nach den Bauplänen der alten rekonstruiert - bis auf das Dach bereits wieder fertiggestellt. Ich war an jenem Tag von der Schronisko (poln.:Hütte) Roztoka im polnischen Teil der Hohen Tatra aufgebrochen, hatte den polnisch - slowakischen Grenzort Lisa Pol´ana passiert, war schließlich von dort aus durch das Bielovodska dolina bis in den prächtigen Felskessel der beiden Hochtäler Litvoroya dolina und Kacacia dolina hinaufgewandert, und hatte mit dem Passieren der Scharte Pol´sky hreben die Nord - Süd Überschreitung des Tatra - Hauptkammes vollendet. Da ich damals die Zbojnicka im besagten noch - nicht - ganz - fertigen Zustand vorfand, war ich gezwungen, durch das Vel´ka studena dolina abzusteigen, und ein Stückchen der Tatranska magistrala folgend, in der dort erreichten Zamkovskeho chata die Nacht zu verbringen. Diese Überschreitung ist sicher eine der großartigsten Touren, die man in der Hohen Tatra überhaupt machen kann, verlangt jedoch aufgrund der Weglänge eine gute Kondition.
Es ist kurz vor halb Neun, als ich von der Chata pod Zelenom aufbreche, der roten Markierung der Tatranska magistrala folgend, die mich auch sogleich auf den höchsten Punkt der gesamten Magistrale führt, dem Sedlo pod Svistovkou mit 2038 Metern. Ein letztes Mal schweift mein Blick über diese fantastische Landschaft um den Zelenom - See, ehe ich auf der Südseite des Sattels wieder hinuntersteige, wo der Weg zur Mittelstation der Seilbahn des Lomnicky stit führt. Diese und jene auf der polnischen Seite zum Kasprowy vrch sind die beiden einzigen Schwebeseilbahnen in der gesamten Tatra - Region. Hinter der Station, wo sich auch ein Berghotel und eine Wanderhütte befinden, führt der Weg weiter südwärts, bis ich schließlich, bereits auf grüner Markierung, die Zamkovskeho chata erreiche, in der ich , wie oben schon angedeutet, bei meiner letzten Tatra - Wanderung wegen Überbelegung eine saukalte Nacht auf dem Speicher zugebracht hatte, obendrein noch gestört durch das Geflüster und Gekichere gleichfalls dort oben einquartierter Liebespärchen. Das Wegstück zwischen Sattel und Hütte erscheint einem verwöhnten Tatra - Begeher wie mir eher mäßig interessant, offeriert es doch kaum Blicke auf die über mir liegenden Bergriesen, einfach aus dem Grund, weil der Pfad zu nahe unterhalb dieser vorbeiführt. Es gewährt vielmehr Ausblicke hinunter zum Tatranske Podhorie, dem überwiegend ebenen Tatravorland mit seinen weit verstreuten Siedlungen. Da dieses heute unter einer Nebelglocke liegt, die sich nur gelegentlich lichtet, bleibt diese Aussicht jedoch mäßig. Mit der Zamkovskeho chata ist gleichzeitig auch der Eingang zum Hochtal Mala studena dolina erreicht, wo die Baumgrenze bald überschritten ist und ich, dem Bach folgend, über verschiedene Talstufen, begleitet von fantastischer subalpiner Vegetation, nach oben gelange, wobei schon sehr frühzeitig die hoch oben am Rand einer Talstufe thronende Teryho - Hütte (2015 m ) erkennbar ist. Diese Bergunterkunft steht inmitten hoher Felsblöcke, umgeben von zackigen Berggipfeln und fünf kristallklaren Bergseen und ist wohl die am genialsten Gelegene der gesamten Tatra. Wie war ich dort eingetroffen, bei meinem ersten Tatra - Aufenthalt! Auf Biegen und Brechen war ich von der Nordseite in Javorina bei strömendem Regen aufgebrochen, um dann oben auf dem Sedlo Sedielko (2376 m ) obendrein noch in ein Schneegestöber zu geraten. Zu guter Letzt waren die Seen, die die Hütte umgeben, über ihre Ufer getreten und mir blieb nur noch, bis zu den Oberschenkeln durchs Wasser zu waten , was eigentlich sowieso keine Rolle mehr spielte, da ich eh schon platschnaß war. In der Hütte angekommen, leerte ich meine Schuhe aus wie volle Wassereimer, sehr zur Freude des Hüttenwirtes, der mich damals sogleich mit einem Rüffel empfing: "Wie konnten Sie nur hierherkommen in dieser Situation!" Naja, so bin ich eben und jetzt bin ich wieder hier, diesmal jedoch unschwieriger durch´s Tal hinaufgekommen, aber die Situation ist auch jetzt wieder besch...! Zwischenzeitlich hat nämlich Schneefall eingesetzt und die Gegend rings um die Hütte beschwört schon weihnachtliche Gefühlswallungen herauf! Der einzige Übergang in´s Vel´ka studena dolina führt über den nicht ganz leichten Priecne sedlo (2352 m), und da oben wütet offensichtlich ein Schneesturm. Ich entschließe mich zu einer Einkehr in die Hütte, und als ich auf die Frage des Wirtes, wohin ich denn noch gehen wolle, eben diesen Sattel benenne, ist auch gleich wieder eine Rüge fällig. Sicher habe auch ich erkannt, daß dieser Übergang, sollte ich ihn heute tatsächlich machen, erstens gefährlich ist, und zweitens keinerlei Vergnügen bereiten, sondern jediglich zu einer Plackerei unter widrigen Umständen werden würde. So lasse ich mich dann doch gerne von meinem ursprünglichen Plan abbringen, und entscheide mich somit, das Tal wieder hinunterzusteigen, ein Stück weit auf der Magistrale vorzumarschieren und anschließend das Nachbartal Vel´ka studena dolina zur Zbojnicka chata (dt.: Räuberhütte) hinaufzusteigen, und mir somit eine gute Ausgangsposition zu verschaffen, um von dort aus am folgenden Tag, unter entsprechenden wetterbedingten Vorrassetzungen, den Übergang über die beiden Pässe sedlo Prielom und Pol´sky hreben anzugehen. Allerdings ist mir auch bewußt, daß ich die Hütte heute wohl erst nach Sonnenuntergang erreichen werde. Da ich die Route jedoch bereits kenne, halte ich dieses Manko für kalkulierbar und halte mir schon mal die Stirnlampe parat. Der Wirt der Terhyo - chata kann zwar meiner Logik nicht ganz folgen - er weiß schließlich nicht, daß mein ferneres Ziel die Westtatra ist, und ich somit eine Streckenwanderung anstrebe - hält diese Idee aber ebenfalls für geeigneter, als meine ursprüngliche.
Also marschiere ich jetzt das gesamte Mala Studena - Tal wieder hinunter bis zur uns bereits bekannten, mitten im Wald gelegenen, Zamkovskeho chata. Zwischen Hütte und dem Eingang zum Vel´ka studena dolina tost neben einer Brücke der schöne Wasserfall Obrovsky vodopad. Sicher sind die Wildbäche und Kaskaden der Tatra nicht mit denen großer Gletschergebiete zu vergleichen, dennoch rauscht und plätschert es überall. Das Tatrawasser ist sehr bekömmlich und man braucht sich auch keine Gedanken darüber zu machen, ob vielleicht weiter oben gerade eine Kuh reinscheißt, oder man sich etwa mit einer Schafskrankheit infiziert, denn die Viehzucht beschränkt sich nur auf das Tatra - Vorland. Die einzige mir bekannte Alm im Gebirge selbst ist die Hala Gasienicowa in der polnischen Tatra, wobei ich mir auch hier nicht sicher bin, ob diese auch wirklich noch während der Sommermonaten bestellt wird. An Wanderwegen entspringende Wasserquellen werden meist durch kleine, etwa hundehüttengroße Holzhäuschen markiert, wobei ein hölzerner Auslauf ein bequemes Auffüllen der Wasserflaschen ermöglicht.
Als ich das Vel´ka studena dolina hochsteige, dämmert es schon. Es ist dies nicht das erste Mal, daß ich auf einer meiner Wanderungen in die Dunkelheit gerate. Daher weiß ich aus Erfahrung, daß es bei uns in den nördlichen Gefielden, im Gegensatz zu den Tropen, noch eine gute Weile dauert, bis es wirklich zappenduster wird. Das menschliche Auge vermag in der freien Natur auch noch das letzte Quentchen Licht auszunützen, und man hat beispielsweise in einer wolkenlosen Vollmondnacht selbst im Wald noch eine relativ gute Sicht. Somit lege ich dann auch das letzte Wegstück bei Mondschein zurück, wobei solcherlei nächtliche Märsche nicht unbedingt vergnüglich sind, und wenn´s geht, vermieden werden sollten. Die Bären sollen sich ja angeblich Ende Oktober bereits in der Winterruhe befinden. Na, hoffentlich wissen die Bären das auch! Von Weitem erkenne ich jetzt die dunklen Umrisse der Hütte, die zu meiner Verwunderung nicht beleuchtet ist. Doch plötzlich sehe ich sprühende Funken in den Nachthimmel aufsteigen, das Kamin ist demnach angefeuert, was bedeutet, es ist warm, und es ist auch jemand da! Als ich dann schließlich als einziger Hansel im Gastraum beim Schein der Karbidlampe meinen Gulasch schlürfe, wird mir klar, warum da kein Licht brannte: Ich bin der einzige Gast und das aus drei jungen Männern bestehende Hüttenpersonal hat sich zum Pink - Floyd - Epos "The wall" in die Küche zurückgezogen. Die Zbojnicka chata ist indessen wieder zu einer gemütlich eingerichteten Bergunterkunft geworden, nur der frische Farbgeruch stört noch. Die Nacht verbringe ich im Matratzenlager direkt unterm Dach, über welches am folgenden Morgen ein gehöriges Windlein streift, während der Regen an die Fensterscheibe peitscht. Als ich des Nachts zum Pinkeln vor die Hütte getreten war, lag da noch knöcheltief Pulverschnee, den der Regen nun bereits wieder zu einem guten Teil eliminiert hat. Eigentlich habe ich mich schon mit dem Gedanken abgefunden, das Hochtal wieder hinunterzusteigen und dem Verlauf der Magistrala zu folgen, als während des Frühstücks plötzlich die Gipfel frei werden. Ich wittere Morgenluft und beschließe, es doch noch über die beiden Scharten zu versuchen. Das Klima ist milder geworden, und ich tappe zunächst durch Naßschnee und Schneematsch, bis ich schließlich am Anstieg zum ersten Sattel Prielom wegen der zunehmenden Vereisungen die Steigeisen anlegen muß. Die Schneeauflage ist gering, obwohl ich in manchen Verwehungen auch mal knietief einsinke. Oben in der Felsluke, wo sich einem übrigens von Angesicht zu Angesicht der höchste Berg der Hohen Tatra und der Karpaten überhaupt, der Gerlachovsky stit (2654 m), präsentiert, werde ich von kräftigen Böen empfangen, und wie beim Anstieg, so dienen auch auf der anderen Seite Kettenversicherungen als Kletterhilfen, die mich hinunter in ein großes Blockfeld führen. Diese Blockfelder sind sehr häufig in der Tatra anzutreffen, sie sind das Resultat der hohen Temparaturschwankungen zwischen Tag und Nacht. Die Wanderwege führen oft durch solche Blockfelder hindurch und sind auch häufig aus mehr oder weniger flachen, aus diesen Feldern stammenden, Felsblöcken zusammengesetzt, womit erfreulicherweise der Erosion Einhalt geboten wird, die ja, Alpenkenner wissen das, oft die Wege bis Knietiefe ausschwemmt und, da derlei "Holperpfade" unbequem zu begehen sind, in Folge dann von unbedachten Wanderern umgangen werden, wobei in häufig frequentierten Gebieten auf diese Weise wahre Autobahnen entstehen. Die Felswege in der Tatra, die manchmal ein wenig den alten Römerstraßen ähneln, oftmals aber auch wie unregelmäßig hohe Treppenstufen durchs Gelände führen, sind dann nicht etwa abgenützt, sondern bieten ein überraschend gutes Profil. Zwischen großen und kleinen Felsblöcken arbeite ich mich jetzt vorsichtig vor bis zum nächsten Anstieg, der mich abermals zu einem Übergang hochführt, nämlich zum Pols´ky hreben. Wie bereits oben erwähnt, habe ich die Tour schon einmal unternommen, damals jedoch, von der Teryho chata ausgehend, zunächst über den Priecne sedlo, wobei strahlender Sonnenschein geherrscht hatte. Diese Drei - Pässe - Tour Priecne sedlo - Sedlo Prielom - Pol´sky hreben gilt übrigens als eine der großartigsten alpinen Wandertouren im gesamten Tatra - Gebirge. Heute läßt eine graue Hochnebeldecke der Sonne keine Chance, die Sicht auf die umliegenden Gipfel ist dennoch gewährleistet, und ich bin, im Gegensatz zum letzten Mal, die einzige Seele in dieser eindrucksvollen Gebirgswildnis. Das Ganze bekommt noch einen besonderen Touch durch die frühwinterlichen Verhältnisse,wobei ich selbst mich durch Eis und Schnee fortbewege und die mich umgebenden Gipfel allesamt bereits mit blankem Weiß überzogen sind. Diese Tour ermöglichen mir nur der Einsatz meiner Steigeisen sowie der Eispickel, ohne diese Gerätschaften wäre die Unternehmung undenkbar. Beim Aufstieg zieht die Windstärke erheblich an und drückt mich schier zu Boden. Ganz extrem wird es dann, als ich die Scharte erreiche: Wie ein Grenadier robbe ich auf dem Bauch hinüber zur anderen Seite, wo ich jetzt höllisch aufpassen muß, um nicht durch den Sturm aus der Wand geworfen zu werden. Der Abstieg erfolgt nun stufenweise, jeweils in der „Ruhephase“ zwischen zwei Böen, um alsdann, im sicheren Stand und mit beiden Händen fest an der Kette, eine weitere Böenattacke über mich ergehen zu lassen, wobei ich darauf bedacht bin, meine Figur klein zu machen, um dem Wind möglichst wenig Angriffsfläche zu bieten.
Ein Erlebnis der gleichen Art wiederfuhr mir bereits bei meinem Aufenthalt in der polnischen Tatra, als ich mich frühmorgens mit der Seilbahn zum Kasprowy vrch hinaufgondeln ließ, wo dann der Wind innerhalb kürzester Zeit Orkanstärke erreichte und ich, teils auf dem Bauch robbend, teils von Deckung zu Deckung hastend, den Rückzug ins Tal antreten mußte. Die Seilbahn verkehrte bei diesen Windstärken ohnehin nicht mehr, was natürlich sehr schlecht für die teilweise mangelhaft ausgerüsteten Tagesausflügler war. Somit wurde ich an diesem Tag um die Besteigung der Svinica (2301m), des höchsten Berges auf rein polnischem Territorium (den 2500 m hohen Rysy teilt man sich mit den Slowaken), und der Fortsetzung des zweiten Teils des Adlerweges (Orla Perc) gebracht.
Ich gelange schließlich unbehelligt hinab in die Velicka dolina, einem wildromantischen Hochtal, das jedoch nicht ganz an die Großartigkeit von Mala und Vel´ka studena dolina - ohnehin vielleicht die beiden schönsten Hochtäler in der Hohen Tatra - heranreicht, aber bei genügend Zeit trotzdem nicht versäumt werden sollte. Nachdem ich den Bergsee Dlhe pleso passiert habe, gelange ich auf eine ausgedehnte Bergwiese mit dem Namen Kvetnica. Der wunderschöne Wasserfall Velicky vodopad beendet seinen Weg, über steile Kaskaden niedergehend, im Bergsee Velicky pleso, wo am südlichen Seeufer das kastenförmige Berghotel Sliezky dom (1670 m) steht. Mein Tagesprogramm ist hier jedoch noch lange nicht erfüllt, denn ich folge nun der Tatranska magistrala, die sich jetzt zu Füßen des Gerlachovsky - Massivs entlangzieht. Die Aussicht wird bestimmt durch die unter mir liegende Ebene von Poprad, und reicht bis hinüber zur Niederen Tatra, wobei eine dieser eher unscheinbar erscheinenden Bergkuppen das Slovensky Raj (dt.: slowakisches Paradies) sein muß, auf dessen außergewöhnliches, faszinierendes Schluchtensystem ich später noch zu sprechen kommen werde. Während mir oben, im Velicka dolina, eine kurze Sonnenscheinperiode beschieden war, trägt der immer noch teils beängstigend tosende Wind jetzt immer mehr Nebelschwaden her, und es liegt auch wieder Schnee in der Luft. Ich passiere den schönen Bergsee Batisovske pleso, und gelegentlich erhasche ich, wenn es der sich zwischendurch lichtende Nebel gewährt, den einen oder anderen Blick auf die über oder hinter mir liegende Bergwelt. Bald gelangt der große Bergsee Strbske pleso mit seinem gleichnamigen Wintersportort ins Blickfeld. Hier wurden übrigens auch schon Weltmeisterschaften im Skispringen durchgeführt. In Strbske pleso hatte ich die letzte Nacht meiner ersten Tatrareise zugebracht, nämlich im allerobersten Stockwerk des Hochhauses "Hotel Panorama", nachdem mir die Preise des Hotels "Patria" die Lust, dort zu übernachten, vergällt hatten. Diese Nacht bleibt mir insofern unvergesslich, als daß ich diese zu einem guten Teil auf der Toilette zugebracht hatte, nachdem ich in dem normalerweise durchaus empfehlenswerten Hotelrestaurant viergängig gespeist hatte. Es war wohl die verflixte Meerrettichsoße...
Der Wind zwingt mich jetzt wieder, mich in geduckter Haltung fortzubewegen. Die Bandscheiben freuen sich , doch es ist immerhin besser, als wie Ikarus hinunter zum Strbske pleso getragen zu werden und anschließend als Gulasch vom Dach des mondänen Hotel "Patria" zu triefen! Die Überschreitung des Sedlo pod Ostrvou führt schließlich voll in die Luvseite, und zwingt mich abermals in die Bauchlage, aber diesmal brauche ich wenigstens keine kettenversicherten Steige zu überwinden. Trotzdem bin ich langsam froh, unter mir mein Tagesziel, das Berghaus Chata Popradske pleso, am gleichnamigen See gelegen, zu erblicken. Mit dieser Gegend favorisiere ich vor der des Strbske pleso, sie ist viel ruhiger, und das Panorama mit See und umliegenden Bergen, das sich einem bei guten Bedingungen bietet, wenn man hier auf der Magistrala daherkommt, ist wirklich überwältigend. Leider mag sich diese Aussicht heute nicht entfalten, die Bergspitzen sind von tiefliegenden Wolken abgeschnitten. Südlich des Poprader Sees befindet sich ein kulturelles Kleinod, der symbolicky cintorin (symbolischer Friedhof). Auf diesem Friedhof sind jedoch keine Toten begraben, es ist vielmehr eine Gedenkstädte für die vielen, in der Hohen Tatra ums Leben gekommenen Bergfreunde. Da mit der touristischen Erschließung des Gebirges die Anzahl der Toten wohl schon dahingehend angewachsen ist, daß man wohl den halben Bergwald in der Umgegend abholzen müßte, würde man jedem Verunglückten ein Gedenkkreuz setzen wollen, beschränken sich denn auch die mit Namen versehenen, schön verzierten und kunstvoll geschnitzten Holzkreuze um das kleine Kapellchen auf diejenigen Personen, die sich in irgendeiner Weise auch um das Gebirge verdient gemacht haben. Sicher dient dieser Friedhof aber zum Gedenken aller hier zu Tode Gekommenen.
Die Chata Popradske Pleso mag innen vielleicht etwas renovierungsbedüftig sein, bietet aber immer noch, so meine ich, ein gutes Preis - Leistungsverhältnis. Das bereits neu möblierte Restaurant offeriert den Gästen übrigens auch eine Auswahl an slowakischen Spezialitäten. Nachdem ich den Vortag teilweise in Schnee und Eis zugebracht hatte, und mir gar manche steife Brise um die Ohren gefegt war, folgt nun das Wunder eines frühherbstlich erscheinenden Traumwettertages. Den Aufstieg durch die Mengusovska dolina gehe ich in der warmen Morgensonne im T - Shirt an. Dieses Tal hat den Ruf, eines der schönsten der Tatra zu sein und wird normalerweise häufig besucht. Heute jedoch herrscht, trotz bester Verhältnisse, eine angenehme Ruhe, nur etwas weiter vor mir zieht eine kleine Wandergruppe denselben Weg hinauf. Von einer exponierten Felsplattform aus genieße ich nochmals den Blick hinab in die Krummholz - und Bergwaldzone, wo der Hincov potok durch die grüne Landschaft mäandriert, bis er irgendwo zu Füßen der das Tal westlich begrenzenden Bergkette verschwindet. Der grüne Fichtenwald ist von einzelnen, goldgelb leuchtenden Lärchen durchsetzt. Während im Tal des Zeleneho pleso (Grünsee) diese bereits all ihre Nadeln verloren hatten, so daß nur noch graue Skelette zwischen den dominierenden Fichtenbeständen hervorlugten, tragen sie hier, wie auch noch in den meisten anderen Tälern, ihr herbstlich verfärbtes Nadelkleid. Dies zeigt, wie unterschiedlich Klima und Wetter manchmal schon von Tal zu Tal sein können. Mit dem Erreichen des ersten Bergsees bin ich auch schon auf der obersten Talterrasse angelangt, die sich weit ausladend, ähnlich einer Hochfläche, als braungelb gefärbte Bergwiese präsentiert. Die mich umzingelnde, halbkreisförmige Felsarena ist schon beeindruckend, ebenso der Vel´ke Hincovo pleso, der größte und schönste unter den hier oben verteilten Bergseen. Auf dem Koprovsky sedlo, dem Sattel zwischen Mengusovska und Hlinska dolina, bietet sich mir eine Option, die ich unter den gegebenen Verhältnissen selbstverständlich annehme: Die Besteigung des Koprovsky stit, was hier vom Sattel aus eigentlich nur einen kleinen Abstecher erfordert. Ende September war im Internet noch vermeldet: Schnee, nicht begehbar. Davon ist jetzt, abgesehen von ein paar wenigen verbliebenen winzigen, weißen Fleckchen, nichts mehr zu merken. Der darauffolgende, ungewöhnlich warme und beständige Oktober hat also einiges wettgemacht. Auf 2363 Metern bieten sich alsbald traumhafte Aussichten, unter Anderem zum Grenzkamm zwischen Polen und Slowakei, wobei beim Blick hinüber zum Rysy wieder einmal Erinnerungen an meine letzte Tatrareise wach werden:

Aus der Elektrobahn war ich damals, von Poprad kommend, an der Haltestelle "Popradske Pleso" ausgestiegen, hatte vor dem Passieren des Sees besagtem Symbolischen Friedhof einen Besuch abgestattet, um dann, an der Weggabelung im Mengusovska dolina der roten Markierung aufwärts zu folgen, wo ich schließlich zur Chata pod Rysmy gelangt war, der auf 2250 Metern höchstgelegenen Berghütte der Hohen Tatra. Das kleine Hüttlein war damals gut belegt, und ich mußte mit einigen anderen Personen die Nacht auf dem Boden des Gastraumes verbringen, während draußen ein gehöriger Sturm tobte. Ich erinnere mich noch an das deutsche Ehepaar, mit denen ich mich beim Abendessen noch unterhalten hatte, die unten im Tal ihr Wohnmobil stehen hatten, und, vom Wunsch beseelt, eine romantische Nacht auf einer Berghütte zu verbringen, hier hoch gekommen waren. Da sich das Toilettenhäuschen ein gutes Stück von der Hütte entfernt, durch einen Pfad zwischen Felsblöcken erreichbar, befand, sah sich die arme Frau in der Nacht doch um einen Teil ihrer Romantik beraubt. Trotzdem waren die beiden am Morgen darauf, wie auch das Wetter, wieder guter Dinge und wir waren gemeinsam zum Rysy hinaufgestiegen. Gerade mal acht Uhr war es, als wir bereits auf dem 2499 Meter hohen Gipfel, den sich Slowakei und Polen teilen, standen. Während die beiden heute noch ihr Wohnmobil im Tal erreichen wollten, war ich wieder mal von einer besonderen Idee getrieben: auf der Nordseite des Berges im steilen Abstieg hinunter auf polnisches Territorium zu gelangen, wo herrlich blau die beiden Bergseen Czarny Staw pod Rysami und Morskie Oko (Meerauge) in der Morgensonne erstrahlten. Wie ich später am Kasprovy vrch, wo ebenfalls ein Grenzübertritt in Wanderschuhen über die Berge zumindest theoretisch möglich ist, im Gespräch mit einem polnischen Grenzer in Erfahrung brachte, ist diese Art Grenzgängertum streng verboten und kann beim erwischt werden erhebliche Komplikationen mit sich bringen. Ich war diese Unternehmung damals also ziemlich unbedarft angegangen, und hatte großes Glück, dabei nicht vom polnischen Zoll gestellt worden zu sein. Mit einer vorab eingeholten behördlichen Genehmigung soll dieser großartige Übergang dennoch auch auf legale Weise machbar sein. Von der Südseite des Morskie Oko aus, des berühmtesten Bergsees Polens, wo auch die vielbesuchte, gleichnamige Hütte steht, war ich abermals aufgestiegen, wobei ich den 2110 Meter hohen Paß unterhalb des Hruby stit überschritt, um in das Dolina Pieciu Stawow Polskich, dem fantastischen Tal der fünf polnischen Seen, zu gelangen. In der rustikalen, in bester Lage situierten Hütte hatte ich die Nacht verbracht, um Tags darauf auf dem Orla Perc (Adlerweg), dem schwierigsten Klettersteig der gesamten Tatra, ein spannendes Bergabenteuer zu bestehen. Vom Zawrat - Sattel aus begann eine Gratturnerei auf und ab über eine beträchtliche Anzahl von Gipfeln und Scharten, wobei einige heikle Stellen zu bewältigen sind, weshalb ich dringend empfehle, diesen Steig möglichst nicht mit dem großen Rucksack, sondern jediglich mit Tagesgepäck anzugehen.

Zurück im Sattel Koprovske sedlo folge ich nun den Weg hinab durch die Hlinska dolina, wobei die Felswände zu meiner Linken noch die schroffe Wildheit der Hohen Tatra bewahren, während sich zu meiner Rechten bescheidenere Grasberge erheben. Direkt vor mir eröffnet sich der Ausblick zu den, ebenfalls niedrigeren, bereits mit den charakteristischen abgerundeten Kuppen der Westtatra versehenen, Liptovske Kopy. Jetzt befinde ich mich praktisch im Übergang zwischen Hoher und Westlicher Tatra, weshalb ich es nun für angebracht halte, den Begriff Westliche Tatra (slowak.: Zapadne Tatry) zu definieren: Deren Hauptkamm zieht sich ungefähr, sich im Westen an die Region Orava anschließend, in etwa west - östlicher Richtung zunächst nur auf slowakischem Territorium, später dann als Grenzgebirge zwischen Polen und Slowakei, bis vor zum Kasprovy vrch, wobei dann die polnische Bezeichnung Tatry Zachodnie lautet. Neben diesem Hauptkamm existieren noch weitere Gebirgszüge mit eigenständigen Namen, die in ihrer Gesamtheit jedoch alle mit zur Westlichen Tatra gehören. Im Nordwesten ist dies das Rohace, während die Bergkette der Sivy vrch den äußersten Westen abschließt. Südlich des Hauptkamms verläuft die Liptovske Tatry (Liptauer Tatra), die Cervene vrchy im Nordosten trennen wiederum Polen und Slowakei, während die Liptovske kopy die Westtatra nach Osten hin begrenzen. Im Vergleich zur Hohen Tatra ist die Westtatra im Durchschnitt etwa 300 Meter niedriger, weniger stark gegliedert, und hat auch weniger Bergseen. Die Täler schneiden sich oft tief ins Gebirge ein und können somit stundenlange Gehzeiten erfordern. Die touristische Erschließung beschränkt sich im Gebirgsinneren auf nur wenige Unterkünfte, und das Zeltverbot, da auch dieses Gebirge dem Nationalparkstatus unterliegt, machen die Planung einer zusammenhängenden Hauptkammtraversierung nicht ganz einfach.

Mein Weiterweg durch das Tal folgt dem Verlauf des Baches Hlinsky potok, um schließlich irgendwann in zauberhaften Märchenwald hinunterzuführen. Dort, wo der Pfad schließlich auf einen von Norden kommenden Forstweg stößt, ist das lange, Nord - Süd ausgerichtete Tal Koprova dolina erreicht, das wohl die Trennlinie zwischen Hoher und Westlicher Tatra vorstellt. Bis zu meinem erklärten Tagesziel Podbanske sind es immerhin noch drei Stunden, zunächst auf Feldweg, später jedoch auf Teer. Zwischen den Bäumen hindurch oder, noch besser auf freien Lichtungen, brilliert die Aussicht zum Krivan. Dieser Berg ist die letzte Bastion und auch der höchste Gipfel des westlichen Teils der Hohen Tatra. Seine eigenwillige Form mit der zur Seite geneigten Bergspitze haben ihn zum Symbol der Hohen Tatra werden lassen. Mit leichter Wehmut nehme ich zur Kenntnis, daß mir die Besteigung dieses außergewöhnlichen Panoramaberges abermals durch die Lappen geht. Bei meinem ersten Tatraaufenthalt hatte ich einen Aufstieg von Strbske pleso aus am letzten Tag vorgesehen, der jedoch wegen des schlechten Wetters buchstäblich ins Wasser fiel. Dieses Mal sind es naturschutzbedingte Gründe, die mich abermals am Aufstieg hindern: da morgen der 1. November ist, obliegen die beiden Wege hinauf zum Krivan der Sperrung. Es ist in der Hohen Tatra üblich, daß die Parkverwaltung die meisten Höhenwege im Gebirgsinneren, ja sogar Teile der Magistrala, für den Zeitraum vom 1.11. bis zum 15.06. für sämtliche Begehungen schließt, wobei Zuwiederhandlungen mit einer Geldbuße geahndet werden können. Mir ist es übrigens immer noch nicht gelungen, eine Wanderkarte der Westlichen Tatra aufzutreiben, und ich schwelge somit noch in der Hoffnung, daß dort die Sperrungen nicht, oder wenigstens nicht gar so rigoros, durchgeführt werden, zumal mir ja ein Slowake, mit dem ich einst auf einer spätwinterlichen Tour in der Mala Fatra zusammengetroffen war, erklärt hatte, daß die Zapadne Tatry eines der beliebtesten Tourenskigebiete in der Slowakei sei, allerdings auch das lawinenträchtigste!

Bis ich den aus etwa zehn Häusern und zwei Hotels bestehenden Ort Podbanske erreiche, dämmert es bereits. Kurz vor der Ortschaft will ein Polizist meinen Ausweis und meine Wanderkarte sehen. Wäre die Karte polnischer Herkunft gewesen, so hätte er mir sicher noch ein paar Fragen gestellt, so aber wünscht er mir einen guten Weiterweg und läßt mich ziehen. Es besteht die Möglichkeit, vom polnischen Kasprowy vrch aus hinab auf slowakisches Gebiet zu steigen und dann durch das Tal Ticha dolina oder durch die von mir begangene Koprova dolina nach Podbanske zu gelangen, und ich vermute, daß es bei dieser seltsamen Kontrolle eben genau darum ging, zumal ich auch gefragt wurde, von wo aus ich denn heute morgen aufgebrochen sei. Also, Vorsicht mit illegalen Grenzübertritten!

Das oberhalb des Ortes stehende Hotel "Krivan" wird gerade, wie derzeit so viele ehemalige Interhotels aus der sozialistischen Ära, renoviert, also begebe ich mich zum etwas abseits gelegenen Hotel "Permon". Als ich die vier Sterne neben dem Namensemblem sehe und ich zu Fuß mit meinem Rucksack die Autoauffahrt zu diesem riesigen Betonklotz hochgehe, kommen mir schon Bedenken, was das wohl kosten wird. Als mir schließlich an der Rezeption ein Doppelzimmer mit Halbpension für etwa 60 Mark zugewiesen wird, das, wäre ich mit einer weiteren Person gekommen, dann je 30 DM gekostet hätte, will ich wirklich nicht murren, zumal Abendessen und Frühstück als reichhaltiges Büffet kredenzt werden, wobei ich mich mit meinem Appetit nicht lumpen lasse. Im Hotel gelingt es mir endlich, die dringend für den nächsten Tag benötigte Wanderkarte "Zapadne Tatry" zu erwerben. Enttäuscht muß ich beim Kartenstudium feststellen, daß die Sperrungen in der Westtatra genauso einschneidend betrieben werden, wie in der Hohen Tatra. Weniger aus Angst vor Strafe, als vielmehr durch die Einsicht, mit meinem Verhalten zur Erhaltung dieser herrlichen Natur beizutragen, beschließe ich, mich an die Vorgaben der Nationalparkverwaltung zu halten.

Als ich des Morgens die Augen öffne, offeriert sich mir durch das dem Bett gegenüberliegenden Fenster das beste Panorama zum Krivan. Ja, so wacht man gerne auf! Pünktlich um halb acht, zur Öffnung des Hotelrestaurants, finde ich mich dort zum Frühstück ein, wobei ich danach keine Bedenken mehr habe, in den nächsten Stunden noch einmal Hunger zu kriegen. Ein großer Teil der heutigen Etappe verläuft über die Tatranska magistrala, die hier durchschnittlich in nur etwa 900 Metern entlang der Nationalparkgrenze hauptsächlich durch Fichtenwald verläuft. Die Waldwanderung wird immer wieder aufgelockert durch das Passieren von offenen Wiesen, wobei die Sicht über das Tatravorland mit seinen Ortschaften, bis hinüber zur Niederen Tatra reicht. Es führen zahlreiche Holzbrücken über anmutig plätschernde Bächlein, man passiert kleine Siedlungen von Ferienhütten, zieht an Heuschobern vorbei und immer wieder weisen die Schilder an den Taleingängen, wo es hinauf ins Gebirge geht, darauf hin, daß der Weitergang durch diese Täler nunmehr untersagt ist. Vom Gebirge selbst ist auf diesem Weg bedauerlicherweise so gut wie nichts zu sehen. Das Wetter hat sich heute wieder dem Winter zugeneigt, die Temperatur liegt in etwa um den Gefrierpunkt, Sonnenschein wechselt mit Bewölkung und einzelnen Graupelschauern. Ein Holzschild "vodopad" weist vor einer Brücke den Weg zu einem sehenswerten Wasserfall, der in wenigen Minuten erreicht ist (nicht mit kleinen Kindern gehen!). An einem Parkplatz erreiche ich schließlich den Eingang zum Ziarska dolina. Dieses Tal ist bis hoch zur gleichnamigen Hütte auch im Winter zur Begehung freigegeben. Die Enttäuschung über das zur Hütte hinaufführende - für den öffentlichen Verkehr allerdings gesperrte - Asphaltsträßlein weicht, als ein rotes Schild zum schön durch Wald, zum Teil hoch über dem rauschenden Bergbach verlaufenden, Fußweg weist. Die blauen Schilder gelten für den Abstieg. Die Graupelschauer bleiben jetzt konstant, die Sonne kommt überhaupt nicht mehr durch, und weiter oben fällt Schnee. Als ich schließlich an der Hütte ankomme, werde ich zunächst etwas ruppig vom dortigen Herbergsvater empfangen. Es stellt sich aber bald heraus, daß der gute Mann schon reichlich einen in der Krone hat. Auf einem Tisch steht eine Flasche mit klarer Flüssigkeit, die bestimmt keine Zitronenlimonade ist, und die er sich gemeinsam mit einem Hüttengast zur Brust nimmt. Seine Frau hingegen ist sehr zuvorkommend und spricht auch deutsch und etwas englisch. Ich werde im Nebengebäude einquartiert, da heute mehrere polnische Familien eingetroffen sind, die den Schlafraum des Hauptgebäudes okkupieren. Ich habe mich ja bereits bei meinem letzten Tatra - Aufenthalt von der Aufgeschlossenheit und Freundlichkeit polnischer Bergwanderer überzeugen können, und so überrascht es nicht, daß ich beim Abendessen, das um sechs Uhr für alle Gäste gemeinsam stattfindet, gleich Kontakt bekomme. Zum Nachtisch wird mir gleich eine Probe des von den Polen selbst mitgebrachten, köstlichen Kuchen kredenzt, Schnaps und Kaffe schlage ich jedoch aus, ersteren aus Prinzip, und den anderen, weil ich sonst nicht schlafen kann. Mein Schlaf wird jedoch aus einem anderen Grund unterbrochen: nach dem Essen hatte ich mir noch gute anderthalb Liter Mineralwasser einverleibt, um den Flüssigkeitsverlust des Tages auszugleichen. Zu schnell getrunken, läuft das Zeug jetzt sprichwörtlich durch mich hindurch, so daß ich in der Nacht fünf - oder sechsmal aus dem molligen Schlafsack in die Kälte hinausgetrieben werde, wo der Schneefall unvermindert anhält. Nach dem Frühstück will ich mich verabschieden, als mich der Hüttenwirt noch zu einem Abschiedsschnäpschen einlädt. Es ist unter slowakischen Bergfreunden durchaus üblich, sich vor oder unmittelbar nach dem Frühstück ein Schlückchen Klaren einzuverleiben, wobei danach trotzdem noch tüchtig gewandert wird und viele führen einen kleinen Flachmann zum "Aufwärmen" mit im Gepäck. Ich mache ihm klar, daß ich keinen Alkohol trinke, und er reicht mir sofort ein Glas Orangensaft als Ersatz, fragt mich nach meinem Weiterweg und macht ein paar Witze. Weiß der Geier, vielleicht doch nicht so schlecht, der Kerl! Vor dem Rückweg durch das Ziarska - Tal nehme ich zum Abschied nochmal die überhalb der Hütte gelegene Bergwelt der Westlichen Tatra in Augenschein, die sich jetzt vollständig in Weiß zeigt. Gestern war ich vor dem Essen noch ein Stück weit bis zu einem Wasserfall hinaufgegangen und ich bedauere es sehr, nicht doch noch weiter vordringen zu können. Meine beiden slowakischen Zimmergenossen hatten mir indes erklärt, daß es durchaus üblich sei, auch die gesperrten Wege zu begehen. Ich bin mir also nicht ganz schlüssig darüber, ob die Nationalparkverwaltung durch das ausgesprochene Verbot jediglich einen Massenansturm verhindern, oder ob man wirklich niemanden hier oben haben will. Wer im Winter durch die Tatra tourt, muß Erfahrung in Orientierung und Lawinenkunde haben, sowie entsprechend ausgerüstet sein.Der Personenkreis derer, die solcherlei Exkursionen angehen, ist im Vergleich zu den Durchschnittswanderern sicherlich begrenzt.

Ich jedenfalls halte mich an die Vorgaben und folge dem gestrigen Weg diesmal nach unten, wobei ab Parkplatz wieder die Tatranska magistrala erreicht ist, der ich weiter nach Westen folge, bis zum Eingang des nächstfolgenden Tales Jalovska dolina, das bis zu einer Weggabelung, wo dieses Tal endet und mit zwei weiteren Tälern zusammentrifft, freigegeben ist. Daß ich den Weg dann zweimal gehen muß, fällt mir angesichts der winterlichen Einsamkeit, die in dieses herrliche Tal eingezogen ist, leicht. Die Jolovska dolina ist enger und wirkt verlassener, als die Ziarska dolina, hier gibt es auch kein Teersträßchen und der Pfad bleibt dicht am Wasser des Jalovsky potok, der gelegentlich von schönen Felsgebilden begrenzt wird. An einem kleinen Unterstand ist dann die Weggabelung erreicht, wo auch das obligatorische Schild der TANAP (Nationalparkverwaltung) ein Weitergehen um diese Jahreszeit untersagt. Dort treffe ich zwei Polen, die gerade vom Hauptkamm herunterkommen, wo sie eine ungemütliche Zeltnacht verbracht hatten, bei Minus sieben Grad im Zeltinneren und Orkanböen mit über 100 Stundenkilometern, die das Kälteempfinden gleich mal auf mindestens Minus 20 Grad herabsetzen. Ich gönne mir zunächst noch eine kleine Vesperpause auf den Holzbänken des Unterstandes, bevor auch ich mich wieder auf den Weg talabwärts mache. Die wunderschön verschneiten Tannenbäume, deren aromatischer Duft die kalte, frische Luft durchdringt, und die jetzt gelegentlich durchdringende Sonne, deren Strahlen im Wasser des Jalovsky potok reflektieren, der wiederum über Felsen und kleinere Kaskaden strömt, oder größere, mit Schneekappen gekrönte Felsbrocken einfach umfließt, dazu das ständige Gluggern und Rauschen des Wassers, steigern meine Laune ungemein. Die heutige Etappe ist für meine Verhältnisse recht kurz und, wie auch die gestrige, unschwierig. Mir bleibt jediglich noch der Abstieg hinunter ins Dorf Jalovec, um mich dort nach einer Übernachtungsmöglichkeit umzutun, falls sich unterwegs nicht schon eine solche bieten sollte. Am Talausgang endet übrigens die Tatranska magistrala, und ich folge jetzt der gelben Markierung (Gelb wird oft für Zubringerwege verwendet). Unterhalb eines verlassenen Hüttendorfes komme ich am Hotel Mier vorbei, wo gerade Renovierungsarbeiten am Dach vorgenommen werden. Mal sehen, vielleicht habe ich Glück! Drinnen ist das gesamte Personal im Restaurant versammelt, jetzt in der Nebensaison und bedingt durch die Abgelegenheit des Hauses, zur Untätigkeit verdammt. Man erklärt mir, daß man zwar zur Zeit wegen Renovierung geschlossen habe, wenn ich mich jedoch noch etwas gedulden möge, könne ich aber bei den Besitzern selbst nachfragen, die bald zurückkehren würden. Das Warten bei zwei Tassen heißer Schokolade lohnt sich dann auch schließlich. Die umtriebige, freundliche Chefin bietet mir Halbpension im Doppelzimmer für etwa 50 Mark, und führt mich auch sogleich durchs Haus, das, aus Staatseigentum erkauft, blitzsauber und innen komplett neu renoviert ist, wobei allerdings noch nicht alle Pläne realisiert wurden. Die Türschlösser sollen in Bälde mittels Chipkarte zu öffnen sein, und auch ein Fitnessraum soll den Gästen in naher Zukunft zur Verfügung stehen. Später treffen dann noch ein slowakisches Ehepaar und eine Gruppe junger Kroaten ein, so daß ich doch nicht der einzige Gast bleibe. Ich habe mir mit diesem Quartier übrigens einen hervorragenden Ausgangspunkt für meine morgige Wanderung verschafft, da der Aufstieg vom Dorf Jalovec zusätzliche Zeit gekostet hätte. Ein Blick durch´s Fenster zum Himmel zeigt mit einer rasenden Geschwindigkeit südwärts ziehende Wolken, oben im Gebirge müssen wohl wieder Orkanböen über die Kämme brausen. Nach einer gut durchschlafenen Nacht und hervorragender Bewirtung trete ich schließlich wieder den Weg nach oben an. Beim Kartenstudium habe ich eine interessante Möglichkeit entdeckt: der Kammweg über die das Gebirge nach Westen hin abgrenzenden Sivy Vrch ist bis zum gleichnamigen Gipfel freigegeben. Die dort eintreffende rote Markierung führt über den gesamten Hauptkamm der Zapadne Tatry. Dieser Weg ist ab seinem Beginn an der Biela skala gesperrt. Sollte ich auf dem Sivy vrch kein Verbotsschild vorfinden, gehe ich davon aus, daß der Weg in diese Richtung freigegeben ist. Wenn nicht, werde ich über den grün markierten Weg zurückkehren und ihn mit einer blau markierten Variante kombinieren. Vor zwei Jahren hatte ich meine Wanderwoche mit der Besteigung des Slavkovsky stit bei Prachtwetter abgeschlossen. Auch dieses Mal sind mir wieder Sonnenschein und beste Sicht beschert, wie wenn mich das Gebirge zu einer abermaligen Wiederkehr überreden wollte. Zunächst führt ein Forstweg in Serpentinen aufwärts durch den Wald. Als ich eine Wasserquelle erreiche, lichtet sich dieser und der Ausblick bietet Atemberaubendes: Da stehe ich zum Einen den verschneiten Bergkuppen des Rohace gegenüber, zum Anderen wird das Panorama Richtung Süden durch die, ebenfalls im oberen Kammbereich schneeweißen, sich jetzt so nah und klar sichtbar, wie noch nie präsentierende Niedere Tatra bestimmt, wo in der dazwischen liegenden, uns trennenden Ebene, sich leuchtend blau der großflächige Stausee Liptovska Mara (dt.: Liptauer Meer) in der Sonne spiegelt. Immer, wenn ich diesen See tagsüber beim Vorbeifahren aus dem Zugfenster heraus gesehen hatte, hinterließ er einen eher tristen Eindruck. Welch eine gegensätzliche Impression bietet er mir dagegen heute! Ich hatte die wunderschönen Bilder, die manche Bücher oder slowakische Kalenderblätter zieren, schon fast der Retuschierung verdächtigt, doch wieder einmal zeigt sich, daß ein und dieselbe Landschaft bei unterschiedlichem Wetter oder in verschiedenen Jahreszeiten dem Betrachter völlig anders erscheinen kann. Mit dem Erreichen des Babky (1566 m) steigert sich noch einmal die Aussicht, die jetzt auch Blicke weit in den Westen hinein zuläßt, über die Mittelgebirge des Choc bis hinter zu Mala Fatra und Vel´ka Fatra. Nördlich des Choc breitet sich die malerische Hügellandschaft der Orava aus, wo sich romantische Dörfer in das bergige Relief einfügen. Weiter im Norden flacht es dann ab und der Orava - Stausee ist zu sehen, wo jenseits dann Polen beginnt. Dort hinten wird das Land von unbeweglich scheinenden, grauen Hochnebelwolken überspannt. Ich folge nunmehr dem Kammweg über die Bergkette der Sivy vrch durch herrlichen, nicht allzu tiefen, gut begehbaren Pulverschnee, überwiegend durch Knieholz, mit stets freier Sicht, die Mala kopa (1637 m) etwas unterhalb umgehend, bis in den Sattel sedlo Preduvratie. Da ich auch hier kein Verbotsschild vorfinde, ziehe ich jetzt weiter hinauf zur Vel´ka kopa (1648 m), danach folgt die Ostra (1764 m) und schließlich geht es aus dem sedlo Priehyba (1640 m) hinauf zum Namensgeber des Massivs, dem Sivy vrch (1805 m). Der Name bedeutet übrigens "grauer Berg" und bezieht sich auf die hellgraue Farbe seiner Felsen. Überhaupt tut sich hier nochmals eine landschaftliche Veränderung auf. Schon von der Ferne waren mir die Felsengebilde aufgefallen, die den nach Westen langsam absinkenden Kamm zieren, über den mein Weiterweg vom Sivy vrch aus führen soll. Auf dem Sivy vrch trifft die gleichnamige Bergkette, die ja von Süden nach Norden verläuft, auf den Hauptkamm der Westtatra, obwohl ich nicht mit Sicherheit sagen kann, ob nun die Sivy vrch zum Hauptkamm gerechnet werden, oder ob die nach Westen verlaufenden Radove skaly dessen Anfang bilden. Die Kette der Radove skaly ist jedenfalls rot markiert, und eben diese Markierung zieht sich dann weiter als Gratweg über den gesamten Hauptkamm. Das nun folgende Wegstück läßt noch einmal richtig Spannung aufkommen und hat, nach zwei geruhsameren Tagen, auch endlich wieder alpines Niveau. Bizarre Felsgebilde prägen den Weg, die bald überklettert, bald umgangen, oder seitlich touchiert werden, wobei höchste Konzentration geboten ist, was sowohl die Wegfindung anbelangt (viel mehr Schnee dürfte wirklich nicht liegen, denn wenn die Markierung nicht mehr sichtbar ist, rate ich dringend von der Begehung ab), als auch die Überwindung kettenversicherter Wegpartien, besonders an zwei Stellen ist das unter den jetzigen Bedingungen nicht ganz einfach. Während die nach Süden hin exponierten Felsen durch die Sonne aufgewärmt und somit gut griffig sind, ist die nördliche Schattenseite leicht angefroren, und ich bin immer wieder damit beschäftigt, meine Hände wieder warmzubekommen. Die von mir mitgeführten Fäustlinge sind für eine solche Situation gänzlich ungeeignet, zumal der Kunstlederbesatz ein Abrutschen geradezu provozieren würde. Trotzdem will ich dieses Wegstück als eines der prächtigsten der gesamten vergangenen Woche bezeichnen, und wer hier mit etwas Fantasie durchwandert, kann sich angesichts der vielfältigen Formen dieser weiß leuchtenden Kalkgebilde allerlei Vorstellungen darüber machen, ob hier vielleicht ein Troll zu Stein erstarrt ist, oder dort ein Mann gerade seine Faust reckt (dieser Fels wird übrigens auf slowakisch "Nemec", Deutscher genannt). Irgendwann wird Knieholz dann durch Wald abgelöst, ich genieße nochmals den frischen Tannenduft und fülle ein letztes Mal meine Wasserflaschen an einer Quelle auf, in der Absicht, zumindest eine Flasche köstlichen Tatrawassers mit in die Heimat hinüberzuretten. Schließlich gelange ich zur Straße, und am Taleingang findet sich denn auch ein Schild, der diesen Weg zumindest in umgekehrter Richtung um diese Jahreszeit untersagt. Wie gesagt, habe ich oben keinen solchen Hinweis gesehen. Aufgrund der erhöhten Schwierigkeiten, die dort jetzt anzutreffen sind, muß ich dennoch zugeben, daß sich die Sperrung wohl auf beide Richtungen bezieht. Die Nationalparksverordnung sieht zudem vor, daß verschneite Wege als unmarkiert zu betrachten und somit von der Begehung auszuschließen sind. Die Markierung war aber glücklicherweise noch nicht zugeschneit, und zudem sind mir unterwegs zwei weitere Gruppen begegnet. Mit dieser letzten Etappe ist mir doch noch einmal ein wundervoller Übergang gelungen und wenn ich es richtig bedenke, war ich vergangenen Sonntag vom östlichsten Ende der Hohen Tatra aufgebrochen und stehe nun hier am westlichsten Endpunkt der Westtatra. Somit ist mir ein kompletter Ost - West - Durchmarsch gelungen, wenn auch in der Westlichen Tatra leider nur die Randgebiete einbezogen werden konnten, was andererseits ein gutes Argument gibt, nochmal zu kommen, um die Hauptkammtraversierung vollständig anzugehen; zudem steht auch noch die langersehnte Durchquerung der Niederen Tatra aus.

Doch noch ist mein heutiger Wandertag nicht ganz abgeschlossen! Ich befinde mich nämlich ziemlich abgelegen an der Paßstraße, die zwischen der Westtatra und dem ländlichen Hügelland der Orava, bzw. des Choc - Gebirges verläuft und die Stadt Liptovsky Mikulas mit dem Nebenzollamt beim polnischen Goralendorf Chocholow verbindet, und da heute Samstag ist, verheißt der oberhalb des Dorfes Huty an der Straße angebrachte Busfahrplan eine längere Wartezeit. Eigentlich habe ich keine Lust, jetzt stundenlang in einer halbtoten Dorfkneipe zu versauern, und somit mache ich mich auf den Weg ins Ungewisse. Auf meiner Wanderkarte ist diese Straße nicht mehr drauf und die Straßenkarte Tschechische Republik/Slowakische Republik, wo auch noch München mit drauf ist, ist einfach zu grob, um die hier aufgereihten Dörfer zu berücksichtigen. Daß es sich um eine Paßstraße handelt, stelle ich gleich fest, da die Straße sofort in Serpentinen nach oben zieht. Obwohl ich solcherlei Teermarschierereien normalerweise hasse, muß ich eingestehen, daß mich das sich zu meiner Rechten ausbreitende Hügelland mit seinen zivilisationsfern wirkenden Dörfern sehr beeindruckt. Ja, hier ist die ländliche Slowakei zu Hause! Stallgeruch dringt in meine Nase, irgendwo da unten brüllt ein Rindvieh, und das nagelnde Knattern eines alten Traktors ist zu hören. Diese Gegend hier gefällt mir weitaus besser, als die allerdings zum großen Teil ebenfalls ruralen und sicher auch schönen Dörfer in der Poprader und Liptauer Ebene. Sie erinnert mich sehr an das Gebiet um den Bran - Paß (Törzburger Hochland) in Rumänien. Bald habe ich die Anhöhe der Paßstraße erreicht, Niedere Tatra und Liptauer Meer sind auch von hier aus gut zu sehen, und zu meiner Linken erstreckt sich die heute morgen begangene Bergkette Sivy vrch. Unterwegs überholt mich dann der Bus, der auf mein Winken hin aber nicht anhält. Als ich das nächstgelegene Dorf erreiche, ist es schon stockdunkel, und der dortige Fahrplan sagt mir, daß der nächste Bus nach Liptovsky Mikulas erst um halb acht geht, was bedeuten würde, daß ich meine Optimal - Verbindung mit dem "Cassovia" direkt nach Pilsen verpassen würde und somit, viel umständlicher, in Prag umsteigen müßte und dann auch später an der Grenze eintreffen würde. Also, Daumen raus in den Wind, und auf die Freundlichkeit anderer Leute hoffen! Die Ortschaften in der Slowakei sind im Übrigen des Nachts sehr dürftig beleuchtet, weshalb ich nun Bedenken habe, ob überhaupt jemand eine düstere Gestalt am Wegesrand "auflesen" wird. Und ich werde aufgelesen! Nicht ganz eine halbe Stunde ist vergangen, die ich an dieser eher schwach befahrenen Straße verharren muß, als ich von einem Kleintransporter mit einer extravertierten Familie samt Oma mitgenommen werde, wobei die jüngste Tochter als Dolmetscherin fungiert. Als ich am Bahnhof abgeladen werde, erfahre ich dort, daß mein Zug aus mir noch nicht bekannten Gründen, vielleicht wegen der zwischenzeitlich geltenden Winterzeit, schon eine Stunde früher fährt, mir bleiben also noch knappe zwanzig Minuten, im Zentrum einen Geldautomaten aufzusuchen und die Fahrkarte zu erstehen. Die Zeit reicht, und ich ergattere beim Schlafwagenschaffner, der mir übrigens noch vom letzten Mal her bekannt ist, eine Schlafkoje bis Pilsen. Man kann sagen, vom Gebirge direkt in den Zug, aber leider muß ich somit heute auf das schon beinahe zur Tradition gewordene letzte Abendessen verzichten.

Slovensky raj
Geheimnisvolles Schluchtensystem in einem ehemaligen Hochplateau

Ein besonderer Leckerbissen für Freunde von Schluchten und Wasserfällen ist sicherlich der Nationalpark Slovensky ray (dt.: Slowakisches Paradies), der sich von Poprad aus in kürzester Zeit per Bus oder Zug (Richtung Kosice) erreichen läßt. Er befindet sich zwischen den östlichen Ausläufern der Niederen Tatra und dem Städtchen Spisska Nova Ves (Zipser Neudorf). In einem ehemaligen Tafelberg oder Hochplateau sind durch die Erosionskräfte des Wassers prächtige Schluchten sowie der Durchbruch des Flusses Hornad entstanden. Zweimal hat es mich schon hierhergetrieben, wobei ich beide Male von meinem alten Bergkumpanen Udo Acker begleitet wurde. Wir hielten es dann jedesmal so, daß wir uns drei Tage lang im Slovensky raj aufhielten, um anschließend noch jeweils eine mehrtägige Schneeschuhtour in der Mala Fatra bzw. Vel´ka Fatra zu unternehmen. Als Übernachtungsstätte diente uns beide Male die einzige sich innerhalb des Nationalparks befindliche Unterkunftsmöglichkeit, das Hüttendorf Klastorisko. Auf 750 Metern Höhe zentral auf einer exponierten Lichtung im Nordteil des Nationalparks gelegen, ist Klastorisko ein hervorragender Ausgangspunkt zur Begehung sämtlicher sich im Nordteil des Parks befindlichen Schluchten, die ohnehin die eindrucksvollsten sind. Zudem handelt es sich um einen geschichtsträchtigen Ort: während der slowakische Name auf das dortige ehemalige Karthäuserkloster, das derzeit unterhalb der Hütten in uneigennütziger Arbeit von einer Jugendgruppe rekonstruiert wird, zurückzuführen ist, erklärt sich der deutsche Name "Zufluchtstein" in der von den Kelten und auch von den späteren Bewohnern der Zips genutzten Möglichkeit einer Fluchtburg vor den einfallenden Mongolen, da dieser Ort von drei Seiten her unzugänglich war und somit auch nie eingenommen wurde. Hinter den Hütten bietet sich eine schöne Aussicht hinaus auf das Waldgebirge, wo ich gerne abends noch dastand, und das Gefühl auskostete, das mir das ohne Unterlaß in einer scheinbar ewig währenden Regelmäßigkeit an mein Ohr dringende Rauschen der tief dort unten tosenden Klammen vermittelte, während sich die Nacht über das Slovensky raj legte. Einen Nachteil hat Klastorisko allerdings für den Schluchtenbegeher: Um zu deren Eingängen zu gelangen, muß man immer zuerst absteigen.

Eine Außergewöhnlichkeit, die meiner Ansicht nach zu besonders nachhaltigen Eindrücken im Slovensky raj geführt hatte, lag sicher in der Wahl der Reisezeit: beim ersten Mal erstreckte sich unser Aufenthalt auf die letzte Märzwoche, bzw. Anfang April, während wir bei der zweiten Reise Anfang März eintrafen. Beide Male fanden wir nahezu identische Klima- und Geländeverhältnisse vor. Kalte Tage und Tauwetter hatten sich abgewechselt, und wir waren die einzigen Gäste auf Klastorisko. Wenn die Schneeschmelze dann fortschreitet, werden die Klammen wegen Hochwassers unpassierbar. Der Zeitpunkt, wann das zutrifft, dürfte wohl in jedem Jahr verschieden sein, je nachdem, wie früh es warm wird, und wieviel Schneemasse vorhanden ist. Jedenfalls hatten wir beide Male Glück, die optimale Übergangszeit erwischt zu haben. In den Klammen fanden wir praktisch sämtliche Nebenfälle im eisstarren Zustand vor, wobei die Hauptwasserfälle allerdings, bereits durch die Wasser der einsetzenden Schneeschmelze angesättigt, mit beeindruckender Wucht, sich ihren Weg durch enorme Eispanzer brechend, umgeben von den kristallenen Eissäulen der kleineren Nebenfälle und tausenden von kleineren bis gigantischen Eiszapfen, in gischtende Gumpen hineinstürzten. Daß das Eis noch dazu aper, d.h. von Schnee unbedeckt war, gab uns manchmal das Gefühl, als befänden wir uns in einem märchenhaften Kristallpalast. Ich möchte jetzt nicht allzusehr ins Detail abschweifen, indem ich jede einzelne der unzähligen Kaskaden beschreibe, was sicherlich auch mein Erinnerungsvermögen zu sehr strapazieren würde. Trotzdem werde ich von jeder der von uns begangenen Klammen deren jeweilige Charakteristik kurz umreißen.
Bei dem Bergstock Slovensky raj handelt es sich im übrigen um ein - von Außen betrachtet - unscheinbares Mittelgebirge, das mit dem Gipfel Havrania skala (Rabenstein, 1156 m) bereits seine höchste Erhebung erreicht. Das Bewandern der Waldwege im Gebirgsinneren bringt dann auch nichts allzu Aufregendes mit sich und für uns, wie wohl auch für die meisten anderen Parkbesucher, dienten sie lediglich zum Erreichen der Kuriositäten, die sich nicht nur auf die vielen Schluchten beschränken, sondern auch weitere landschaftliche Attraktionen einschließen, wie den Hornad - Durchbruch, die Tomsdorfer Aussicht oder die Dobschauer Eishöhle.

Die Tomasovsky vyhl´ad (Tomsdorfer Aussicht) ist eine enorme Felsplatte, die sich wie eine Aussichtsplattform ein gutes Stück weit über den Rand des Abgrundes hinaus erstreckt, und einen schwindelerregenden Ausblick hinab in den Hornaddurchbruch gewährt. Wer die Tomsorfer Aussicht mal sehen will, ohne gleich dorthin zu reisen, der schaue sich einfach den Film "Dragonheart" an, wo es dem Regisseur mit der Verlagerung der Drehkulisse in die Slowakei gelungen ist, die landschaftlichen Verhältnisse, die im Mittelalter in den schottischen Highlands geherrscht hatten, treffend darzustellen, während die meisten anderen Filme, wie z.B. "Highlander" uns mit - unbestritten schönen - Landschaftsaufnahmen aus den heutigen Highlands ein völlig falsches Bild vorgaukeln. Das Gebirge, wie es sich uns heutzutage präsentiert, mit tiefgrünen Hügeln, schroffen, kahlen Felsen und relativ wenig Wald, veränderte sich nämlich erst durch den Eingriff des Menschen, indem die Engländer dazu übergingen, die endlosen Wälder der früheren Highlands zum Bau ihrer Kriegsflotte fast gänzlich abzuholzen, eine Maßnahme, die die Römer schon über tausend Jahre zuvor im Mittelmeerraum betrieben, und somit die uns allen bekannten, im Hochsommer steppenhaft erscheinenden, ausgedorrten und teilweise erodierten Maccia - oder Buschwaldlandschaften entstehen ließ.

Der Hornad (Prielom Hornadu) schlängelt sich durch den äußersten Nordteil des Nationalparks in West - Ost -Richtung vom Beginn des Durchbruchs bei Podlesok (Ferienhüttendorf) bis nach Cingov (Hotel, Ferienhütten), wo der Fluß das Slovensky Raj wieder verläßt. Im Gegensatz zu den meisten Klammen des Parks ist der Weg durch den Durchbruch von beiden Seiten aus begehbar. Die Landschaft läßt sich in etwa vergleichen mit der Schwarzwälder Wutachschlucht und der Durchbruch des Hornad ist dann auch nicht unbedingt schöner, als der uns Südbadenern bestens bekannte heimatliche Pendant, ich persönlich favorisiere sogar mit der Wutachschlucht. Anders sieht es jedoch mit der Streckenführung aus: während der Weg durch die Wutachschlucht den natürlichen Hindernissen oft ausweicht, indem er sich weit oberhalb der Schluchtsohle entlangzieht, oder sich auch mal gänzlich von der Schlucht entfernt, hält der Weg durch den Hornaddurchbruch sozusagen die "Direttissima" ein, indem direkt überhalb des Wassers Trittroste, sowie viele Kettenversicherungen entlang der Felswände angebracht wurden, was eine faszinierende, und dennoch relativ ungefährliche Begehung dieser wundervollen Schlucht ermöglicht. Die Uferseite wird häufig über Hängebrücken gewechselt und die besonders bei unserem letzten Aufenthalt noch vorhandenen, zum Teil riesigen Eisschollen und die Eissäulen der zufließenden Gebirgsbäche verliehen der Schlucht die besondere Note der winterlichen Jahreszeit. Umgestürzte Bäume bleiben, wie auch in den anderen Klammen, wo sie oftmals zu überkletternde Hindernisse bilden, einfach liegen, wie sie gefallen sind, und vermittelten uns die Atmosphäre eines nordischen Urwaldes. Die Gehzeit beträgt unter normalen Umständen nicht ganz vier Stunden, wobei man im Winter ruhig ein Stündchen mehr zurechnen sollte. Auch ist dann erhöhte Vorsicht geboten, will man ein unfreiwilliges Bad im eisigen Flußwasser vermeiden. Steigeisen und Eispickel sollte man parat haben, und dies bezieht sich umso mehr auf die noch unwegsameren Klammtäler (dort auch Steinschlaghelm!), wo geforene Holzstege oder spiegelglatte Wegpartien zu einer echten Gefahr werden können! Selbst der rot markierte Zubringerweg zwischen Letanovsky Mlyn und Klastorisko war jedes Jahr an kritischen Stellen mit gefährlicher Eisglätte überzogen.

Sucha Bela: Diese Klamm war die erste von uns begangene und ist die Lieblingsschlucht meines Freundes Udo. Man geht darin sehr nahe am oder aber direkt im - nicht allzu hohen - Wasser. Die Tatsache, daß man sich dabei nasse Füße holt, sollte man gelassen nehmen, ich persönlich habe schließlich in jeder der Klammen früher odere später nasse "Treter" bekommen. Der Weg führt über ausgelegte Steine, diverse Holzbalken -oder brücken und mittels steiler Eisenleitern werden die Kaskaden überwunden, die in dieser Schlucht zahlreich sind. Oberhalb eines der Hauptwasserfälle muß man noch durch ein Felsenfenster steigen, im Übrigen empfielt sich, wie in den meisten Klammen, eine gewisse Schwindelfreiheit, denn die oft recht hohen Stahlleitern sind nicht Jedermanns Sache. Diese Klamm darf nur in einer Richtung, nämlich von Podlesok bis zur Glacka cesta (Glatzweg) talaufwärts begangen werden.
Sokolia dolina: Unsere zweite Schluchtenerforschung galt dann der Sokolia dolina (Falkental), wobei wir eigentlich feststellen wollten, ob das bekannteste Tal, der Vel´ky Kysel zwischenzeitlich wieder begehbar ist. Im Jahre 1976 brach am Eingang eben dieses Tales ein heftig wütender Waldbrand aus, der zur Folge hatte, daß, abgesehen von den ohnehin zerstörten Tritten und Leitern, dort ständig Steinschlag herrschte und immer wieder verbrannte Baumstämme in die Schlucht hinunterstürzten. Da diese Geschehnisse doch schon weit zurückliegen, hegten wir die Hoffnung, daß dieser Weg vielleicht wieder freigegeben sei. Pustekuchen, ein Verbotsschild am Eingang weist ausdrücklich auf die Gefährlichkeit der gänzlich ungesicherten Klamm hin. Somit setzten wir damals unseren Weg fort und gelangten alsbald zum Eingang der Sokolia dolina. Dieses Tal besticht durch den höchsten im gesamten Slowakischen Paradies existierenden Wasserfall, dem Zavojovy vodopad (Schleierwasserfall), der in drei Teilstücken mittels hoher Leitern überwunden wird, wobei die erste Stufe auch die höchste ist. Der Weg ist im oberen Bereich der Kaskade auch zusätzlich mit Eisenketten und Trittrosten gesichert und von einer Brücke aus bietet sich dem Begeher die Möglichkeit, einen Blick hinunter über den tosenden Wasserfall zu riskieren. Im Vergleich zur Sucha Bela, die von Beginn bis zum Schluß reichlich Abwechslung bietet, beschränkt sich die Sokolia dolina eben auf diese - wenn auch sensationelle - Attraktion, während es ansonsten eher, besonders im oberen Teil der Schlucht, an Dramatik fehlt. Am Ausgang der Schlucht, auf der Bergwiese Vel´ka pol´ana trug es sich zu, daß wir dort teilweise bis zu den Hüften im Tiefschnee einsanken. Die aus Deutschland mitgebrachten Schneeschuhe lagerten indessen unbenutzt in unserem warmen Hüttchen im "Basislager" Klastorisko. Da wir dort, und auch am Vortag auf dem Glatzweg, Verhältnisse vorfanden, die ein Mitführen dieser Gerätschaften erübrigten, handelten wir im guten Glauben und erlebten jetzt unser "weißes Wunder"! Sicher bestand für uns keinerlei Gefahr, aber die wenigen hundert Meter, die wir über die Vel´ka pol´ana zurücklegen mußten, ehe wir im Wald wieder bessere Verhältnisse vorfanden, gaben uns eine Vorahnung, was es bedeuten würde, irgendwo im Tiefschnee einer Einöde sich zunächst bis zur Erschöpfung kaputtzurackern, naßgeschwitzt dann liegenzubleiben und schließlich in der letzte Phase sich einer überwältigenden Müdigkeit und Wärme zu ergeben, was dann den sicheren Erfrierungstod bedeutet., dem sich dann angeblich nur noch Menschen mit einem extrem starken Überlebenswillen wiedersetzen können. Weit entfernt vom Tod, aber trotzdem abgekämpft und hungrig wie die Bären, erreichten wir an diesem Abend Klastorisko.

Klastoriska roklina: Bei dieser Schlucht handelt es sich um die kürzeste Klamm im Nordteil des Slovensky raj. Ihr Zugang befindet sich unten im Hornad - Durchbruch und endet auf der Wiese von Klastorisko. Die etwa eine Stunde beanspruchende Begehung führt ebenfalls mit Hilfe von Leitern seitlich an mehreren prächtigen Wasserfällen empor, und diese Klamm steht mit ihrer wilden Schönheit ihren größeren Schwestern, außer in der Länge, in nichts nach. Wenn man sein Quartier auf Klastorisko hat, läßt sich diese Begehung durchaus noch an eine größere Klammwanderung anfügen, was dann nicht mehr als etwa eineinhalb Stunden zusätzlich in Anspruch nimmt. Wir begingen diese Klamm am Ankunftstag unserer Wiederkehr ins Slovensky ray. Nebel und Schneeregen konnten uns nicht davon abhalten, zumal in den Schluchten keine Fernsicht nötig ist. Man sollte dennoch die Klammsteige bei anhaltendem, stärkerem Regen oder bei extremen Gewitterergüssen meiden, da sonst der Ausflug vielleicht ein tragisches Ende nehmen könnte. Hierzu halten auch die Nationalparksvorschriften an. Wie auch die beiden anderen Klammtäler, darf die Klastoriska dolina nur in der von mir beschriebenen Richtung durchgangen werden.

Maly Kysel: Der Maly Kysel oder zu deutsch Kleiner Kißel liegt von Klastorisko aus auf dem Weg zu den beiden Schluchten Piecky und Sokol, so daß wir die Ehre hatten, dieses Tal an zwei Tagen hintereinander zu begehen, was uns aufgrund seiner pittoresken Romantik und als Alternative zu den sonst oft eher etwas langweiligen Anmärschen auf Forstwegen, eine willkommene Abwechslung bot. Der Weg ist im Aufstieg unschwer, es finden sich somit auch keine Tritthilfen. Die Klamm sollte auf jeden Fall vor der Begehung der beiden oben genannten Schluchten "mitgenommen" werden. Da auch dieses Tal nur in eine Richtung zur Begehung freigegeben ist, muß man dies auf dem Hinweg tun. Vor Eintritt in den Maly Kysel bietet sich noch die Möglichkeit eines kleinen Abstechers auf dem kurzen Rundweg mit gelber Markierung zum sehenswerten Wasserfall Obrovsky vodopad. Es ist dies übrigens eine Kaskade des Vel´ky kysel (Großer Kißel), der hier unseren Weg streift, und leider der einzige verbliebene Einblick in die bis zum heutigen Tag gesperrte ehemalige Paradeschlucht des Nationalparks.

Piecky - Tal: Die Tatsache, daß um 1930 im unteren Schluchtbereich durch ignorantenhaften Holzeinschlag und Abtransport der Baumstämme einige Kaskaden zerstört wurden, läßt wohl den Schluß zu, daß dies vielleicht einst eines der eindrucksvollstenTäler gewesen sein muß, denn es ist immer noch attraktiv genug, um mit zu den "ganz Großen" des Slovensky raj gezählt zu werden. Auch hier werden atemberaubende Wasserfälle mittels künstlicher Steighilfen überwunden, wobei der obere Teil des Tales, nach Passieren der Bachquelle, trocken ist.
Vel´ky Sokol und Rothova roklina: Unsere letzte Begehung ist mein persönlicher Favorit und empfielt sich vielleicht all denjenigen, denen nur Zeit für eine einzige Begehung bleibt. Diese beiden Täler mit den deutschen Bezeichnungen Großer Sokol und Martin - Roth - Klamm (Erstbegeher) können nur in Verbindung miteinander durchgangen werden und es ist, da nur in Aufstiegsrichtung zur Begehung freigegeben, am Ende des Großen Sokol keine Umkehr möglich, was ohnehin Blödsinn wäre, da die Rothova roklina mit relativ geringem Zeitaufwand gemeistert werden kann und das Gesamtbild dieser Begehung in einmaliger Weise abrundet. Der große Sokol ist am Taleingang etwas ausladender geraten, als die anderen Klammen und wird von eindrucksvollen, 300 Meter hohen Felswänden gesäumt. Je tiefer man ins Tal vordringt, desto enger rücken die Felswände zusammen. Herrliche Wasserfälle werden mittels Leitern und Trittrosten flankiert, unterwegs eine Karstquelle und das sogenannte Steintor passiert, bis man schließlich zu einer Talgabelung gelangt, wobei unser Weg in die rechte, sehr enge, wildromantische Martin - Roth- Schlucht hineinführt. Die Impression der uns jetzt scheinbar beinahe erdrücken wollenden gigantischen Eisskulpturen empfand ich hier noch intensiver als anderswo.

Mit meinen obigen Ausführungen sind noch nicht alle Klammen des Slovensky Raj beschrieben. Im Südteil des Parks besteht die Möglichkeit, die Zojmarska roklina zu begehen, was von Klastorisko aus aufgrund des langen Anmarschweges nicht möglich ist. Zudem befindet sich dort die Dobschauer Eishöhle, die sicher ebenfalls einen Besuch lohnt.

Mala Fatra
Spätwinterliche Impressionen einer Hauptkammwanderung

Bei der Mala Fatra (Kleine Fatra) handelt es sich um ein Mittelgebirge im Westen der Slowakei, etwa zwischen den Städten Zilina und Martin, das durch den Durchbruch des Flusses Vah (Waag) zweigeteilt ist. Meine Ausführungen beziehen sich auf den sich nördlich des Durchbruchs erstreckenden Gebirgsteil, der auch, zu Recht, Nationalparkstatus hat. Dieser von etwa Süd - West nach Nord -Ost verlaufende Gebirgsstock ist wohl unbestritten der eindrucksvollste unter den slowakischen Mittelgebirgen.

Strecno (360 m) ist eine schöne, kleine Ortschaft, die sich, an den Gestaden des Flusses Vah gelegen, an dessen engster Durchbruchsstelle befindet. Hier sind wir also aus dem Zug gesprungen und genossen nun zunächst eine Vesper auf einem Jausenplatz direkt am Flußufer. Hoch über uns, auf der anderen Seite des Flusses, thronte die imposante Burg Strecno und in der warmen Frühjahrssonne genossen wir die Idylle, während die Schwäne sich auf dem träge dahinfließenden Strom an uns vorbeitreiben ließen. Der Aufstieg erfolgte dann zunächst parallel zum Flußufer mit schöner Aussicht über die Dächer von Strecno, der Vah und zur gegenüberliegenden Burgruine. Auch die beiden Eisenbahnbrücken, über die zuvor unser Zug den Fluß gequert hatte, waren jetzt gut einzusehen. Schließlich senkte sich die Wegführung wieder bis auf Flußniveau, um uns in das Tal Stahroradska dolina hineinzuführen. Nach Verlassen eines mit Feriendatschen gesäumten Teerweges ging es dann steil hinauf zur nächsten Attraktion: die Burgruine Stary hrad (dt.: alte Burg), deren Ausgucke durch Fensterluken oder durch herausgebrochene Mauerlöcher uns das zuvor schon Gesehene noch einmal, diesmal jedoch aus höherer und exklusiverer Position, wiedergab, wobei man beim Fototermin am offenen Torbogen direkt über dem Abgrund und bei der weiteren Erforschung der alten Gemäuer etwas Vorsicht walten lassen sollte, da dies, besonders mit Kindern, doch nicht ganz ungefährlich ist. Der durch Mischwald führende Weg legte nochmals an Steilheit zu, und während wir unten im Tal nicht ein Fleckchen Schnee vorfanden, waren wir nun gezwungen, für das letzte Stück hinauf zur Hütte doch noch die Schneeschuhe anzulegen, da wir kräftezehrend im Tiefschnee einsanken. Es war kaum zu glauben, aber während unten im Waagtal die Frühjahrssonne die Vegetation bereits zum Blühen gebracht und den zurückliegenden Winter schon vergessen lassen hatte, herrschten hier oben, an der auf 1125 Metern gelegenen Suchy - Hütte, noch tiefwinterliche Verhältnisse, zumindest was die Schneemenge betraf. Etwas unterhalb der Bergunterkunft ragten von einem eingeschneiten Tatra - Lastwagen nur noch die Fenster und das Dach aus dem Schnee, wobei letzteres nochmals eine etwa einen Meter dicke Schneeschicht trug.

Wir waren die einzigen Gäste, und der Hüttenwirt kümmerte sich sogleich um unser Wohlergehen. Schnell noch vor der Türe ein wenig Holz gehackt, und schon bald loderte das Kaminfeuer, eine wonnige Wärme zog durch die Gaststube, während wir uns bei unzähligen warmen Tees innerlich aufwärmten und hungrig das Abendessen herbeisehnten.
Tags darauf erwartete uns dann ein Aufstieg, der es aufgrund der vorherrschenden Verhältnisse in sich hatte. Nach dem Erreichen des Sattels Sedlo Prislop pod Suchym (1202 m) ging es nun steil aufwärts zum Gipfel des Suchy. Nie hätten wir gedacht, daß wir für dieses nicht allzu lange Wegstück so viel Zeit und noch dazu einen derartige Aufwand an Kraft brauchen würden. Schuld daran war der Naßschnee und die Tatsache, daß wir für unsere Schneeschuhe keine Stöcke mitführten, was uns in die fatale Situation brachte, praktisch drei Schritte vorwärts zu tun, und sogleich wieder zwei Schritte zurückzurutschen. Ich hatte kurzfristig keine passenden Teller für meine Teleskopstöcke auftreiben können, und meine alten Skistöcke aus den 70ern schienen mir zu sperrig, da diese nicht zusammensteckbar sind. Udo hatte die Mitnahme seiner Stöcke ohnehin kategorisch abgelehnt und wir hielten uns ja schließlich für mordsmäßige Kraftprotze! Jetzt, auf dem vernebelten Gipfel des Suchy (1468 m) angekommen, mußten wir einsehen, daß sich die von uns geplante Hauptkammbegehung in drei Tagen unter diesen Umständen zumindest nicht vollständig realisieren ließ. Um unser vorgesehenes Tagesziel, die Berghütte Chata pod Chlebom zu erreichen, hätten wir noch mindestens ein halbes Dutzend weiterer Gipfel zu überschreiten gehabt, zudem wäre die Orientierung in dieser Nebelsuppe problematisch geworden, die bei gutem Wetter herrliche Fernsicht auf diesem aussichtsreichen Kamm wäre uns ohnehin entgangen. Um nicht auf demselben Weg zurückkehren zu müssen, schlugen wir dann den direkt südwärts hinunterführenden Weg Richtung Chata na Klacianskej Magure ein. Beim Abstieg waren wir so gut wie möglich aus der Steilheit dieses hier baumfreien Hanges hinausgegangen, und prompt entdeckten wir dann auch in der Steilhanglage einen mehrere Meter breiten Riß in der Schneedecke. Die Temparaturen waren mild, und die Gefahr einer sich lösenden Naßschneelawine durchaus gegeben. Diese Lawinenart ist langsamer als das Schneebrett oder etwa die Staublawine, dafür reißt sie oft die komplette Schneedecke mitsamt darunterliegendem Erdreich mit sich.
Kurz hinter dem Sedlo pod Suchym war es dann soweit: wir hatten uns verlaufen. Ein Faktor, die bei Winterbegehungen immer wieder Probleme aufwirft, ist die Wegfindung in unbekanntem Gelände, besonders dann, wenn niemand vorher gespurt hat, wie das jetzt der Fall war. Also, Kompaß und Karte gezückt und den Himmel um die nötige Portion Glück angefleht ging es dann weiter im herrlich verschneiten Tannenwald. Querfeldein, durch steilhangige Bergwälder, gingen wir immer tiefer hinunter, und irgendwann gewahrten wir dann zwischen den Bäumen des jetzt vorherrschenden Laubwaldes ein Hüttendach und die darüberliegende baumfreie Zone deuteten wir als Skipiste. Wir hatten es geschafft und die Bergunterkunft mit ihren zugehörigen Schleppliften gefunden!

Die die Hütte bewirtschaftenden jungen Damen zeigten jedoch keinerlei Eifer, uns zu bewirten oder Unterkunft zu gewähren, und da es ohnehin noch recht früh war, um den Wandertag schon zu beenden, beschlossen wir, ins Tal hinunterzusteigen, das wir dann in der Ortschaft Turcianske Kl´acany erreichten. Da es hier keine touristischen Unterkünfte gab, fuhren wir mit dem Bus weiter nach Vrutky, in die unansehlichen Schlafstadt von Martin, der ehemaligen Panzerschmiede des Warschauer Paktes. In Vrutky landeten wir eher zufällig, denn aufgrund unsere Ortsunkenntnis wähnten wir uns bereits in Martin und waren schon vorzeitig aus dem Bus gestiegen. Nichtsdestotrotz kamen wir auch in Vrutky unter, nämlich in einem ehemaligen Interhotel mit einem guten Restaurant. Unser generalstabsmäßiger Plan für den folgenden Tag sollte dann lauten: Wiedererreichen des Hauptkamms über einen lawinensicheren Weg. Wir entschieden uns somit für den Aufstieg von der Ortschaft Sutovo aus, und wir guckten dann etwas blöde aus der Wäsche, als unser Schnellzug die Haltestation, ohne anzuhalten, passierte und wir erst in Kral´ovany wieder aussteigen konnten. Hilfreiche Leute verwiesen uns dort aber auf die bestehende Busverbindung, so daß wir doch noch Sutovo erreichten. Der letzte Teil des von dort angegangenen Aufstiegs erfolgte über eine Skipiste im dichten Nebel und wir konnten bereits das Hüttenkamin riechen, die gesuchte Chata pod Chlebom (Chlebhütte, 1415 m) aber nicht sehen, ein gutes Lehrbeispiel, wie man bei solcherlei Witterungsverhältnissen die rettende Unterkunft um nur wenige Meter verfehlen kann. Wir jedoch fanden eine Hütte, wenngleich es auch die falsche war. Etwas unterhalb der Chlebhütte befindet sich nämlich eine nicht in der Karte verzeichnete, private Skihütte, wo sich eine gut zwanzigköpfige slowakische Skifahrergemeinde einquartiert hatte. Deren Einladung zu Tee, Gulasch und Schnaps waren wir gefolgt, und den salzig schmeckenden Tee hielten wir für eine slowakische Spezialität, zumal uns nach dem anstrengenden Aufstieg durch Naßschnee jegliche Art warmer Flüssigkeit willkommen war, bis dann in der Küche schallendes Gelächter losbrach: die dort tätigen Frauen hatten die Salz - mit der Zuckerdose verwechselt! Nachdem Udo bereits der zweite Schnaps eingeflößt worden war, verabschiedeten wir uns dann, um das lezte kleine Stück hinauf zur Chlebhütte nicht noch im Dunkeln zurücklegen zu müssen.
Die Chata pod Chlebom ist eine urgemütliche Berghütte, die, nachdem sie 1982 abgebrannt war, dem Wanderer zwischenzeitlich wieder im vollen Umfang zur Verfügung steht und von der aus der zentrale Teil des Hauptkamms einfach zu erreichen ist. Nach einer etwas lauten Nacht (die Skifahrer der unteren Hütte hatten noch Einkehr gehalten!) folgte ein Prachttag auf dem Hauptkamm der Mala Fatra! Im schönsten Sonnenschein folgten wir , verschiedene Gipfel überschreitend, dem herrlich verschneiten Kammweg, der, durchwegs überhalb der Baumgrenze verlaufend, traumhafte Aussichten auf die umliegenden Täler und nahezu unendlich scheinenden Mittelgebirgszüge gewährte. Der Wind hatte in der Schneedecke des ausgesetzten Kammes Verwehungen mit bizarren Formen geschaffen und riesige Wächten türmten sich gefährlich überhängend oberhalb des Abgrundes auf, was uns stets einen respektvollen Abstand zu den uns flankierenden Abstürzen einhalten ließ. Während der schneefreien Zeit präsentiert sich die Mala Fatra übrigens mit herrlich weiß leuchtenden Kalkklippen, die sich jetzt aber noch unter der tiefen Schneedecke versteckten. Während die typischen Gipfel der Mala Fatra sich als abgerundete Kuppen präsentieren, fällt der Vel´ky Rozsutec (1610 m), der bei dieser Wanderung die Aussicht gen Nordwesten dominiert, mit seiner felsigen, zackigen Gestalt völlig aus dem Rahmen. Er erschien uns wie aus der weiter entfernten Hohen Tatra herausgeschnitten und hierhertransferiert. Der höchste Gipfel der Mala Fatra ist jedoch der Vel´ky Krivan, der über dem Sattel Snilovske Sedlo thront, wo wir, von der Chlebhütte kommend, auch den Hauptkamm wiedererreicht hatten. Von einer Besteigung hatten wir wegen des lawinengefährlichen Hanges jedoch abgesehen. Im Sedlo Medziholie verließen wir schließlich den Hauptkamm wieder, um ins Dorf Stefanova hinunterzusteigen. Die ehemals auf der anderen Seite des Passes gelegene Berghütte Chata pod Rozsutcom ist übrigens ein Raub der Flammen geworden und zum Zeitpunkt unseres Aufenthaltes in der Mala Fatra waren noch keine Wiederaufbaumaßnahmen begonnen worden.

Unten in Stefanova, einem wunderschön gelegenen, mit angenehmen Unterkunftsmöglichkeiten ausgestatteten Bergdorf, stellten wir dann fest, daß von dort nur zur Hochsaison Busse verkehren. Gottseidank, denn der weitere Abstieg durch nunmehr schneefreies Gelände offerierte uns nochmals bleibende Eindrücke. Zu unserer Rechten hob sich ein eindrucksvoller felsiger Kamm empor, während wir einem aufschlußreichen Naturlehrpfad, der uns unter anderem auch über die hier vorkommenden Braunbären aufklärte, in eine fantastische kleine Klamm hineinfolgten, bis wir an einem Parkplatz mit Gastwirtschaft und Hotel die Straße erreichten. In der nahe gelegenen Ortschaft Terchova hatten wir schließlich Busanschluß in die Stadt Zilina, die sich an der Schnellzugstrecke Richtung Prag/Pilsen befindet.


Stille Einsamkeit - Die Vel´ka Fatra
Wege im zentralen Hauptkamm

Wie im Jahr zuvor, so besuchten wir auch nach unserem zweiten Aufenthalt im Slovensky raj eine der vielen interessanten Mittelgebirgsregionen der nördlichen Slowakei. Unsere Wahl war auf die Vel´ka Fatra (Große Fatra) gefallen, die, was der Name vielleicht vermuten läßt, nicht etwa höher ist, als die Mala Fatra, sondern, im Gegenteil, ihre durchschnittliche Höhe etwas unter der des nahegelegenen Pendanten hält und ihren Namen mehr mit ihrer größeren Gesamtfläche rechtfertigt. Hier dominieren tiefe, weit ausgedehnte Bergwälder und der durch meist abgeflachtere Kuppen geprägte und deshalb nicht ganz so großartige Rundblicke zulassende Hauptkamm zieht sich nur knapp über der Baumgrenze, gelegentlich aber auch bewaldet, in grober Richtung von Südsüdwest nach Nordnordost. Ungewöhnlich tief schneiden die Täler ins Gebirge ein, das längste Tal L´ubochnianska dolina bringt es auf die stattliche Länge von 25 Kilometern. Die Vel´ka Fatra ist touristisch weniger erschlossen und für Liebhaber einsamer Bergtouren wie prädestiniert. Die beiden bedeutendsten Talorte sind Martin auf der nordwestlichen und Ruzomberok auf der nordöstlichen Seite des Gebirges.

Die schön am Gebirgsrand gelegene Ortschaft Blatnica, die wir über Martin mit dem Bus erreicht hatten, sollte uns als Ausgangspunkt für den Aufstieg ins Gebirge dienen. Da die Anreise vom Slowakischen Paradies aus bereits einen halben Tag in Anspruch genommen hatte, berechneten wir in unserer knappen Kalkulation ein Eintreffen im Berghotel Kral´ova studna kurz vor Sonnenuntergang. Unsere Milchmädchenrechnung zerplatzte jedoch, als der anfangs gut begehbare breite Forstweg durch das schöne Tal Blatnicka dolina von einem zugeschneiten und ungespurten Steig durch den Bergwald abgelöst wurde. Die Wegfindung wurde immer schwieriger und wir verloren so viel Zeit, daß uns die Dunkelheit überraschte, noch ehe wir die Bergunterkunft erreicht hatten. In der gespannten Situation waren wir uns zudem uneinig darüber, was nun zu tun sei. Während Udo sofort nach Blatnica zurückkehren wollte, wollte ich den Versuch nicht auslassen, es doch noch bis zum Berghotel zu schaffen, was streckenmäßig zwar näher gewesen wäre, jedoch unter den gegebenen Umständen Probleme bei der Wegfindung aufgeworfen hätte. Da wir jedoch Vollmond hatten, der Nachthimmel klar war, und wir im Falle des Scheiterns nur der eigenen Spur hätten zurückzufolgen brauchen, hielt ich den Versuch, nach oben weiterzukommen für kalkulierbar. Schließlich einigten wir uns dann doch auf den Abstieg zurück nach Blatnica. Unten im Ort hatten wir eingangs zwar zwei oder drei Pensionen gesichtet, aber ich war mir nicht sicher, ob uns dort um diese Jahres - und Uhrzeit noch geöffnet würde. Wären wir gezwungen gewesen, in dieser steinkalten Nacht im Freien zu übernachten, so hätten wir uns unbedingt überwinden müssen, die naßgeschwitzten Klamotten in der Kälte auszuziehen und uns in trockene Kleidung zu packen, um die Nacht heil und halbwegs angenehm zu überstehen. Just in dem Moment, als wir am Kirchplatz des jetzt stockfinsteren Dorfes eintrafen, fuhr der Bus aus Martin daher. Was für ein Glück! Erschöpft ließen wir uns in die Sitze des warmen Busses fallen und in die sichere Stadt Martin kutschieren, wo wir die heiße Dusche und die gemütlichen Betten unseres Hotelzimmers wirklich zu schätzen wußten.

Der darauffolgende Tag fand uns dann in Bela - Dulice, einem Dorf, das sich ebenso an die Abhänge der Vel´ka Fatra schmiegt, und sich etwas nördlicher als Blatnica am Eingang des ebenfalls sehenwerten Tales Belianska dolina befindet. Wir hatten somit unsere Pläne geändert, und wollten nun als Unterkunft die Berghütte Chata pod Borisovom anstreben. Da wir heute genügend Zeit für den Aufstieg hatten, konnten wir diesen denn auch in aller Ruhe angehen und erreichten die Hütte schließlich nach einem längeren Aufstieg entlang des Bergbaches und zuletzt durch den Wald. Die Chata pod Borisovom ist eine zünftige, kleine Berghütte, die zwar nicht über fließendes Wasser verfügt, dafür aber jede Menge Charme und die Gemütlichkeit einer einfachen, rustikalen Berghütte besitzt, besonders dann, wenn die freundliche Hüttenwirtin den Gastraum mit dem guten, alten Kanonenofen beheizt und uns mit einer deliziösen Eintopfsuppe bekocht, die wir lobend als die beste Suppe der Slowakei im Hüttenbuch vermerkten.

Am nächsten Tag bestiegen wir zunächst den Gipfel Borisov (1509 m), von dem unser Hüttchen seinen Namen hat, und der sich auch direkt über ihr erhebt. Mit der großartigen Aussicht war´s nichts, die Nebelsuppe, durch die wir hinaufgestiegen waren, lichtete sich auch oben nicht, und ein eisiger Wind pfiff uns gehörig um die Ohren.
Daß wir auf eine vollständige Hauptkammbegehung, die sicherlich ein großartiges Unternehmen darstellt, verzichteten, lag in der Tatsache, daß mein Freund Udo aufgrund gesundheitlicher Beschwerden nicht mehr oder nur noch unter Schmerzen in der Lage ist, einen großen Rucksack zu tragen, was sich bereits bei den Aufstiegsrouten zu den Bergunterkünften bemerkbar machte. Für eine Hauptkammtraversierung ist jedoch das Tragen des vollständigen Gepäcks unerläßlich, da man in der Vel´ka Fatra leider nicht auf die Hilfe von Maultieren oder Sherpa - Trägern oder den in den großen Wandergebieten Mittel - und Westeuropas immer populärer werdenden Gepäcktransportservice per Auto zurückgreifen kann. Somit beschränkten sich unsere Erkundungsmärsche dann auf Tageswanderungen um die Borisov - Hütte, die allerdings eine sehr gute Ausgangslage im zentralen Hauptkamm bietet.

Als nächstes Ziel nach unserer Borisov - Besteigung avisierten wir den Gipfel Rakytov, von der Hütte aus in nordöstlicher Richtung gelegen. Hierzu stiegen wir zunächst auf die Ploska (1532 m), einem voluminösen, kuppenförmigen Berg, der in diesem Sektor des Gebirges eine Art Angelpunkt darstellt, wo mehrere Nebenkämme praktisch sternförmig mit dem Hauptkamm zusammentreffen. Auch hier zog ein rauher Winterwind über das stark verwehte Gipfelplateau, die Aussicht war besser, als auf dem Borisov, doch hielt sie sich den ganzen restlichen Tag über in Grenzen, uns ein Wechselbad zwischen mittelmäßiger Aussicht und nebligem Trübsal servierend. Immer wieder sahen wir uns von Nebelbänken eingehüllt, die dann bald wieder von starken Windböen weggefegt wurden, um danach neue Nebelschwaden zu uns heranzutragen. Auf diese Weise tangierten wir die aus einer waldbestandenen Erhebung herausragenden, zackigen Felsreliefs der Cierny Kamen, zogen dann unterhalb des Gipfels Krackov vorbei, um schließlich, aus dem Sattel Juzne Rakytovske sedlo (1295 m) heraus, zuerst ein großes Felsentor passierend, den völlig in Nebel gehüllten Rakitov - Gipfel zu erreichen, aufgrund der "prächtigen" Aussicht wieder einmal ein rein sportlicher Gipfelsieg. Der Rückweg erfolgte dann gezwungenermaßen auf dem selben Weg, der allerdings in seiner Beschaffenheit das typische Bild des Hauptkammes der Großen Fatra wiederspiegelt. Hauptsächlich über Bergwiesen und durch Knieholzbestände, die jetzt noch unter einer zusammenhängenden Schneedecke schlummerten, führte uns unsere Route, um ab und an auch mal in kleinere Tannenwaldhaine abzutauchen, während die uns umgebenden Hänge, Täler und niedrigeren Nebenkämme von weitläufigen, dichten Wäldern überzogen waren, in denen man sich ohne Karte und Kompaß noch sicherlich so hoffnungslos verirren könnte wie Hänsel und Gretel im Grimmischen Märchen. Man braucht nicht viel Phantasie, um sich der Vorstellung hinzugeben, wie in einer bitterkalten Winternacht das Heulen ausgehungerter Wölfe über die einsamen Berghöhen ertönt.

Nach einer erneuten Nacht in der Chata pod Borisovom wandten wir uns dem Südteil der Hauptkammroute zu, wobei erneut zuerst die Hochfläche der Ploska erreicht werden mußte, ehe es dann im abwechslungsreichen Auf und Ab, dabei die Berggipfel Kysky (1330 m) und Suchy vrch (1550 m) überschreitend, auf den höchsten Gipfel der Vel´ka Fatra, dem 1592 Meter hohen Ostredok, zuging. Die Bedingungen waren heute noch schlechter, als am Vortag. Der dichte Nebel wollte sich überhaupt nicht lichten, es herrschte nasses Tauwetter, und die gestern noch wunderschöne, geschlossene Schneedecke hatte auf manchen Passagen bereits gewaltige Einbußen hingenommen, es hatten sich an vielen Stellen wieder grüne Flecken gebildet, auf denen sogar die unter der kalten Schneedecke hervorragend konservierten Kuhfladen der vergangenen Weidesaison wieder zum Vorschein traten, und der uns begegnende Tourenskifahrer war denn auch nicht mehr allzu glücklich über die gegebenen Schneeverhältnisse.Vom wenig prägnanten Ostredok aus erreichten wir in wilden Irrungen, oft querfeldein, mit dem Kompaß im Anschlag, das wahrscheinlich schönste aller Vel´ka - Fatra - Täler, das wahrhaft majestätische Gaderska dolina, in dem der Wildbach Gadersky potok, rauschend und gurgelnd über zahlreiche kleinere Kaskaden springend, uns hinunter in die Talschaft Blatnica begleitete. Hierbei wurden wir von ungewöhnlich mächtigen und imponierenden Felswänden flankiert, die uns schier vergessen ließen, daß wir uns eigentlich "nur" in einem Mittelgebirgstal befanden. Dieser sich recht lange hinziehende, wunderschöne Talweg entschädigte uns somit doch noch für die uns entgangene Aussicht auf der Hauptkammroute. In der uns bereits bekannten Ortschaft Blatnica endete schließlich unsere Exkursion in die bereichernde Berglandschaft der Großen Fatra. Nach einem schmackhaften Abendessen in der Stadt Zilina brachte uns der Nachtzug "Cassovia" wieder einmal zurück ins tschechische Pilsen.

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