Donnerstag, 17. Oktober 2013

Das Kreuz vom Elbrus

Mythos, Götterthron, Weltberg - Europas Höchster am Rande des Kontinents

Mineralnye Wody - lange schon ist mir der Name ein Begriff, und oft schon wünschte ich mir, eines Tages einmal den Fuß auf die Rollbahn des lokalen Flughafens dort zu setzen, um einen Plan auszuführen, den ich nun doch schon des Längeren hege. Mineralnye Wody gilt zwar als der Hauptort des russisch-kaukasischen Bäderviertels ("Kawminwody"), hat aber im Gegensatz zu den vier Kurorten Kislowodsk, Schelesnowodsk, Pjatigorsk und Jessentuki weder Mineralquellen noch sonstige erwähnenswerte touristische Sehenswürdigkeiten aufzuweisen. Die in der russischen Landschaft Stawropol gelegene 76.000-Seelen-Stadt würde uns also an sich nichts bieten. Doch mit dem örtlichen Flughafen ist sie das Tor zum russischen Kaukasus,  und der meistgewählte Ausgangsort zur Besteigung des höchsten Berges dort, den 5642 m hohen Elbrus. Mehrmals war´s bereits geplant und mehrmals wieder verworfen. Mit dem nun endgültigen Entschluss zur Besteigung des Elbrus gestatte ich mir zudem sozusagen die Vorerfüllung eines alten Traums vom Reisen in den sagenhaften und vielfach zitierten "wilden Kaukasus" , diesem faszinierenden Hochgebirge an der Nahtstelle zwischen Europa und Asien, wo es auf engstem Raum mehr Diversion an Völkern und Sprachen geben soll, als anderswo. Es wird für dieses Mal eine zeitlich recht begrenzte Reise werden, sozusagen ein Reinschmecken, aber möglicherweise wird in dieser Richtung noch mehr folgen. Somit verstehen wir unsere erste Kaukasusreise als Einstand für mehr in der Zukunft, und gerade deswegen gilt unser erster Besuch seinem Höchsten, dem Elbrus.

Der Elbrus ist ein Stück weit vom Hauptkamm abgesteppt. Nähert man sich dem Berg von Norden her, so ragt er verblüffend solitär aus einer sanft anmutenden, grünen Hügel- und Vorgebirgslandschaft empor. Auch wenn er eher gedrungen erscheinen mag, so machen die perfekte Symmetrie eines klassischen Vulkans, seine beiden nahezu gleich hohen Gipfel und nicht zuletzt auch der zum Grün seiner Umgebung so kontrastär scheinende, weit über seine Flanken herabreichende,  zuckerweiße Eismantel sehr wohl was her. Mag sein, dass im Kaukasus wohl noch manch´ wildere, steilere und dramatischere Bergspitzen herumstehen. Der Elbrus ist jedoch einzigartig, unverwechselbar. Und er ist ein Rekordberg: seine Position nördlich des Hauptkammes kürt ihn zum höchsten Berg Europas, wohl nicht ganz unumstritten, aber zumindest nach Definition des 7-Summits-Projektes. Und er ist ein echter Vulkan: auch wenn seine mächtigen Krater von Eis zugedeckt sind, und aus diesen wohl schon lange keine Fumarolen mehr aufsteigen - der Elbrus ist noch nicht erkaltet, er gilt als ruhend und ein neuerliches Aktivwerden irgendwann mal in der Zukunft ist nicht ausgeschlossen.

Wie alle bedeutenden Berge, so gilt auch der Elbrus als Mythos, umwoben von Sagen und Legenden. Für die zu seinen Füssen siedelnden Völker galt er als der Thron der Götter, war aber auch der Ort eines weltbekannten Martyriums. Der von den Göttern bestrafte Prometheus schmachtete angekettet am Berg, gepeinigt von einem seine Leber verzehrenden Adler.

Ein Martyrium kann der Elbrus sehr wohl auch für seine Aspiranten werden. Und das nicht nur etwa, wenn man sich schlecht vorbereitet an diesen eindrucksvollen Koloss wagt. Fordernd sind seine großen Höhen allemal, der Berg gilt aufgrund seiner Exposition als besonders wind- und wetteranfällig und für gemeinhin als sehr kalt. Un wehe dem, der auf dem Weg zum Gipfel dann tatsächlich von Wetterunbilden heimgesucht wird, oder wer möglicherweise unterwegs von der Route abkommt und sich in einem Gewirr von Gletscherspalten verirrt, in denen sich Kirchen mitsamt ihren Türmen versenken ließen!

Ganz besonders fatal kann ein Biwak im sogenannten Elbrussattel ("Sedlowina Elbrusa") auf 5350 m Höhe werden. Man befindet sich dort exakt zwischen Ost- und Westgipfel. Wenn die Stürme die Windrichtung Nord-Süd oder umgekehrt nehmen, dann entwickelt sich der Sattel zu einer perfekten Windschneise. Eine Gruppe von Polen soll auf diese Weise mitsamt ihrem Zelt auf Nimmerwiedersehen verschollen sein ...

Für die Besteigung entscheidet sich das Gros der Bergsteiger (wohl um die 90 %) für den Südanstieg. Mittels Kabinenbahn und Sessellift kann man dort seinen Aufstiegsbeginn bis auf 3700 m hinaufschieben. Pistenraupen bringen die Bergtouristen gar noch weiter hinauf, nämlich auf 4060 m, bis zum Standort des legendären, 1997 abgebrannten Berghauses Prijut 11 (Prijut Odinnatzati). Feste Unterkünfte bieten die hässlichen Botschiks (von den Touristen synonym auch Barrels, also Tonnen genannt) neben der Sessellift-Bergstation, sowie die Dieselnaja, welche die Prijut 11 ersetzt und einst als deren Kesselhaus dienlich war. Die komplette Route ist mit Fähnchen und Seilen markiert und gleicht einer präparierten Skipiste. Wer sich an die Markierungen hält, braucht übrigens keine Spaltenstürze zu befürchten. So bietet die Südseite die perfekte Infrastruktur für eine möglichst schnelle und objektiv sichere Besteigung, ideal für hastige 7-Summits-Absolventen oder Solobegeher, aber schnell auch mal ein Overkill für nichtakklimatisierte Personen. Schön ist anders, das sowohl auf die Art des Bergsteigens bezogen, als auch auf die Landschaft. Ich werde später nochmals darauf zurückkommen.

Wir haben uns für einen Aufstieg von Norden entschieden. Dort gibt es noch keine Seilbahn, nicht einmal eine nennenswerte Siedlung. Das Basislager der Nordseite auf knapp 2600 m Höhe steht malerisch auf einem Weideplateau, wo berittene balkarische Hirten ihr Vieh hüten.Wir hegen noch weitere Pläne: wir wollen, wenn möglich, das sogenannte Kreuz vom Elbrus machen, d.h. beide Gipfel an einem Tag besteigen, und um die Sache abzurunden, wollen wir hernach noch auf die Südseite absteigen. Sozusagen die ultimative Elbrustour, vermutlich das Höchstmaß an Erlebnis, was dieser Berg auf seinen beiden Normalrouten bieten kann.  So wünschen wir es uns, jedoch gemacht ist das noch lange nicht ...

                                                                          *

02.08.2013
So ist es denn nun endlich Wirklichkeit - Valerij und ich setzen unsere Füsse in Mineralnye Wody auf die Rollbahn, Aeroflot hat uns von Zürich aus via Moskau hierhergebracht. Der erste Eindruck deckt sich nicht unbedingt mit der Beschreibung eines Freundes, der bereits vor längerer Zeit hier aufgeschlagen war, um - wie kann es anders sein? - den Elbrus zu besteigen. Trostlos und heruntergekommen, so hatte das einstmals hier ausgesehen, aus offenen Fenstern trister, alter Betongebäude im Wind flatternde Vorhänge, und so. Weit gefehlt, die Zeiten haben sich geändert, wir erleben einen gut hergerichteten, modernen Flughafen. Beim Verlassen des Komplexes empfängt ein Banner in englischer Sprache inzwischen auch internationale Besucher: "Welcome to Caucasian Mineral Waters". Und was Aeroflot betrifft: man merkt eigentlich keinen Unterschied mehr zu den anderen renommierten Fluggesellschaften. Naja, die orangefarbenen Uniformen mit Schiffchen der Stewardessen wirken vielleicht noch etwas zu formell ...

Sergeij ist einer der Fahrer unserer Agentur 5642.ru. Auf einer bestens ausgebauten Schnellstraße brausen wir vorbei an grüner, sanft gewellter Landschaft, aus welcher vereinzelt Berge im Mittelgebirgsformat herausragen. Der etwa 1400 m hohe Beschtau ist der höchste unter ihnen. Von den eisigen Riesen des Kaukasus ist hier noch nichts zu sehen. An klaren Tagen soll einem der Elbrus am Horizont erscheinen, doch heute will sich uns der Auserkorene noch nicht zeigen. Nach anderthalb Stunden Fahrzeit kommen wir Kislowodsk an, die südlichste der vier nordkaukasischen Bäderstädte. Der Sitz unserer Agentur befindet sich hier, und hier werden wir unsere erste Nacht verbringen.

Sergeij parkt den Wagen vor einem Gebäude, welches mit seiner ansprechenden Jugendstilfassade aus zaristischer Epoche repräsentativ ist für die schicke Kur- und Flaniermeile im Zentrum der altehrwürdigen Bäderstadt. Im Inneren des Gebäudes ist die Pracht allerdings schon weitestgehend verblüht, das Treppenhaus und die Gänge wären renovierungsbedürftig und zu manchen Büroräumen fehlen gar die Türen. Der einstige Glanz des abgewetzten Parkettbodens ist längst matt geworden und verbleibt als museales Relikt einstiger Feudalität.

Eine blonde Dame mittleren Alters empfängt uns. Sie ist die ausführende Direktorin von 5642.ru. Wir erhalten ein kurzes Briefing über den vorgesehenen Ablauf der Dinge, werden darauf hingewiesen, was wir während unseres Aufenthaltes am Elbrus tun dürfen und was wir unterlassen sollten, ein wenig Smalltalk (findet übrigens alles auf russisch statt, Valerij übersetzt), dann werden wir um die Unterzeichnung des Vertrages gebeten. Russisch natürlich, in kyrillischer Schrift, ich bekomme eine Ahnung vom Analphabetendasein!

Unsere Unterkunft befindet sich in einem Wohngebiet außerhalb des illustren Zentrums. Die Gebäude dort sind schon von einfacherer Art und durchaus etwas heruntergekommen, wenngleich auch ihnen eine inzwischen leider verblichene Ehrwürdigkeit anhand alter Stuckverzierungen, schön geschnitzter Holzverkleidungen u.ä. anzusehen ist. Sicher ist es hier aber landestypischer, als im Zentrum. So auch das Haus von Jirii, dem Boss der Agentur, selbst passionierter Bergsteiger und Träger des sowjetischen Schneeleopardordens. Der Innenhof erscheint wunderbar unaufgeräumt, wir werden in einem der Mehrbettenzimmer übernachten, mit Sicherheit keine luxuriöse, dafür aber bodenständige Unterkunft. Wir treffen dort auch auf eine Gruppe, welche eben erst vom Berg zurückgekehrt ist. Der noch sehr rüstige, 91-jährige Vater von Jirii empfängt uns herzlich und Valerij kommt mit dem alten Mann ins Gespräch. Dieser ist ein erfahrener Pflanzenkundler.

Abends gehen wir Essen mit der zurückgekehrten Gruppe. Ein lauschiges Lokal im Zentrum, und natürlich lassen wir es uns nicht entgehen, uns gleich einen kaukasischen Schaschlik zu bestellen. Anschließend bummeln wir noch ein wenig durch die ansprechende Flaniermeile. Ein Feuerwerk erleuchtet den Nachthimmel, das wird hier regelmäßig und ohne besonderen Anlass gemacht - für die Kurgäste. Kislowodsk wird mir schnell sympathisch, ein ansprechender Ort und willkommener Auftakt für unsere Reise.

Jiriis Haus in einem einfachen Wohnviertel der Stadt
Der Innenhof mag wohl deutschen Gemütern als chaotisch erscheinen. In anderen Kulturen werden eben oft auch andere Prioritäten gesetzt, als zuhause, und man tut generell auf Reisen gut daran, die Dinge etwas differenziert und gelassener zu betrachten
Blick vom Balkon unseres Zimmers

03.08.2013

Von Jiriis Pension aus werden wir morgens zu einer Kantine gefahren. Man findet solche häufig auch in anderen Ländern des ehemaligen Ostblocks. In einer schlichten Einrichtung bekommt man zu einem günstigen Preis bodenständige und schmackhafte Küche serviert. Dabei steht eines, höchstens aber zwei Gerichte zur Auswahl. Dieses Frühstück hat es jedenfalls in sich, selbst ein Schnitzel gehört mit dazu.

Derart gestärkt treten wir die Fahrt zum Basislager auf der Nordseite des Elbrus an. Mit unserem geländegängigen UAZ-Kleintransporter brausen wir auf zunächst guter Straße durch grünes, nahezu unbewohntes Hügel- und Bergland. Die höheren Berge dort lassen sich am ehesten mit den Allgäuer Grasbergen, wie etwa Höfats oder Schneck, vergleichen. Kaum mal ein anderes Fahrzeug kommt uns auf der Strecke entgegen. Fast schon scheint es mir, als würden wir direkt ins Niemandsland hineinfahren.

Drei Stunden dauert die schöne Fahrt, im Finale dann noch über eine äußerst ruppige Piste, wo uns die ersten balkarischen Hirten auf ihren Pferden begegnen. Das Basislager befindet sich auf einem ausgedehnten Weideplateau, malerisch und zur Erholung einladend. Das tun denn auch die Einen oder Anderen hier im Lager, denn nicht alle der Anwesenden sind Bergsteiger. Es werden mehrtägige Aufenthalte für Wanderexkursionen oder Ausritte zu Pferd von der Agentur angeboten, sodass man hier auch Familien mit Kindern oder ältere Herrschaften trifft. Uns Bergsteigern begegnen diese Leute mit einer Mischung aus Bewunderung und Neugier. In Russland hat sich die Bergsteigerei noch eine gewisse Aura von Heldentum und Männlichkeitsbeweis bewahrt, vergleichbar bei uns mit den Zeiten von Hermann Buhl oder Louis Trenker.

Nachdem wir die persönliche Habe in einer der uns zugewiesenen Schlafhütten verstaut haben, begeben wir uns unter Anleitung von Alexeij, unserem Guide,auf eine kleine Wanderung zu den nahen Narsanquellen von Dzhylysu. Narsan wird das hier sprudelnde Mineral-Heilwasser genannt, welches sich sowohl zum Trinken, als auch zum Baden eignet und der Gesundheit zuträglich sein soll. Allerdings sollte man beim Trinken etwas vorsichtig mit der Menge sein, denn zuviel davon kann zu Problemen im Verdauungstrakt führen, was kein guter Einstand für das bevorstehende Abenteuer wäre.

Wir lassen es uns jedenfalls im kleinen Badebecken wohlergehen, mit Blick auf den nahen Sultan-Wasserfall. Auch der Weg hierher durch eine Schlucht hindurch hat sich bereits gelohnt. Auf der Rückkehr werden wir von einem kurzen Gewitter heimgesucht, hernach spannt sich ein wunderschöner Regenbogen über die Landschaft hinweg.

Vor dem Abendessen unternehmen Valerij und ich noch eine kleine Exkursion in die Schlucht oberhalb des Basislagers. Auch in Lagernähe sprudelt übrigens eine Narsanquelle.

Im Aufenthaltsraum, der wie die Schlafhütten mit Strom und sogar mit einem Fernseher ausgestattet ist, werden wir anschließend mit einem herzhaften und reichhaltigen Abendessen verköstigt.
Grünes Hügelland bei der Anfahrt 

Kein Haus, keine Menschenseele zu sehen ...

Unser UAZ hatte unterwegs kaum Gegenverkehr

Berittene Hirten

Das Basislager befindet sich auf etwa 2600 m Höhe

Auf der Wanderung zu den Narsanquellen von Dzhylysu passieren wir diese abenteuerliche Schlucht ...


Bei der Annäherung von Norden zeigt sich der Elbrus als ein nahezu solitär aus den grünen Hügeln des Kaukasusvorlandes herausragender Gigant. Ansonsten bekommt man auf der Nordseite kaum mal weitere hohe Kaukasusgipfel zu sehen. Bei diesem hier im Bild könnte es sich möglicherweise um den Balyksubashi (3932 m) handeln.

Blick hinab zu den Mineralquellen von Dzhylysu. Der Ort scheint auch ein beliebtes Wochenend-Ausflugsziel der Einheimischen zu sein.

Narsanwasser kann man trinken ...

der schöne Sultan-Wasserfall

wie diese drei Kaukasier kann man darin aber auch die Füsse baden ...

... oder aber auch ein kommunikatives Vollbad nehmen

Open-Air-Umkleidekabine

Die Rotfärbung von Wasser und Gestein lässt auf einen hohen Eisengehalt schließen

Regenbogen nach einem kurzen Gewitterguss

Auch Hirtenunterkünfte findet man im Umfeld des Basislagers

Nicht nur Hirten, auch Ausflügler reiten gerne durch die Weiten der Steppe

Gar manche Camper und Angelfreunde zieht es übers Wochenende hier hinaus

Noch eine Narsanquelle

Nicht mehr ganz intakte Brücke


Blick ins obere Kyzylkol-Tal, in Richtung Buruntash-Pass. Die Passhöhe trennt die beiden russischen Kaukasusrepubliken Karbadino-Balkarien und Karatschai-Tscherkessien

Abendlicher Ausflug in die Schlucht oberhalb des Basislagers

Warnung auf russisch vor Steinschlag

Abendstimmung im Basislager



04.08.2013

Morgens gegen 6.30 h kämpfen Sonne und Nebel miteinander und kreieren somit faszinierende Bilder. Während des Frühstücks kann ich direkt durchs gegenüberliegende Fenster blicken und schaue den Kühen zu, wie sie draußen vor der Hütte aufmarschieren. Hier auf den grünen Wiesen des Kysylkoltales sind wir noch weit entfernt von der unwirtlichen, rauhen Welt des Schnees und der Gletscher, hier erfreuen wir uns noch an einer romantischen Almenidylle.

Um 8 Uhr  machen wir uns auf den Weg. Ziel der Akklimatisationstour soll das Lager 2 auf 3763 m Höhe sein, wobei wir bei der Gelegenheit auch ein Depot anlegen wollen mit den Dingen, die wir für den Gipfelaufstieg  benötigen und im Basislager vorerst nicht mehr brauchen. Morgen werden wir dort oben die erste Nacht verbringen. Wir gehen sehr langsam, Alexeij nimmt auf die Schwächsten der Gruppe Rücksicht. Für die gut Austrainierten ist dieses gemütliche Gehen bei mäßigem Pulsschlag die ideale Akklimatisation. Auf etwa 2850 m betreten wir eine Hochebene. Hier beginnt der Berg, den Landschaftscharakter eines typischen Vulkans augenscheinlich zu entfalten. Diese Hochebene hat übrigens während des 2. Weltkrieges deutschen Truppen zeitweise als Fliegerhorst gedient. Am oberen Rand der Hochfläche lassen wir uns zu einer Pause nieder, essen eine Kleinigkeit und beobachten dabei die zahlreich hier vorkommenden Murmeltiere. Waren die Murmeltiere am Pik Lenin im Pamir größer, als die in den Alpen lebenden Exemplare, so sind diese hier kleiner, als die Verwandten in unseren Gefilden. Um 10.35 h pausieren wir abermals auf nun 3220 m, um 12.10 erreichen wir 3500 m. Hier steigen wir bereits parallel zum Ullukol-Gletscher. Der Elbrus weist eine grössere Zahl an namentlich benannten Gletscherströmen auf. Um 13.30 kommen wir im Lager 2 an. Hier enden die Felsen, das Eis beginnt. Wir schauen uns freudig in dieser wilden Umgebung um, verstauen dann unsere mitgebrachten Sachen und nehmen anschließend einen kräftigen Imbiss, ehe wir um 15.10 h wieder den Rückweg antreten. Im Abstieg unternehmen wir noch einen Abstecher zu den Kamennye Gribi, den Steinernen Pilzen, auf 3225 m. Dies sind bizarr aussehende Felsformationen, deren Formen an riesenhafte Pilze erinnern. Im Verlauf des weiteren Abstieges beginnt es zu regnen, zum Schluss gar in Strömen, bis wir schließlich um 18.15 wieder im Basislager eintreffen und somit endlichwieder  in trockenen Tüchern sind. Die Mitnahme des Regenzeuges hat sich bewährt, denn nasse Klamotten werden hier aufgrund fehlender Heiz- und Trocknungsmöglichkeiten nur sehr mühsam, bzw. überhaupt nicht mehr trocken. Nach dem Abendessen mache ich noch gegen 21 Uhr einen kleinen Spaziergang ums Lager herum. Wetterbesserung hat eingesetzt. Die beiden ebenmäßigen, schneeweißen Kuppen des Elbrus treten nun, da sich Gewölk und Diesigkeit verzogen haben, ins Visier und erscheinen hoch über dem Lager wie zwei gigantische Wächter. Die Berge und Hügel in nächster Nähe sind durch den zurückliegenden Niederschlag weiß angezuckert.

Morgenstimmung im Basislager


auf der Hochebene, welche zeitenweise im 2.Weltkrieg von den Deutschen als Flugfeld benutzt wurde

Rückblick über die Hochebene hinweg zur nördlich aufragenden Bergkette 

der weitere Anstieg vollzieht sich über diesen Bergrücken, vermutlich eine alte Gletschermoräne

Pause auf 3220 m

oben wird´s zusehends kälter und windiger - rechterhand fliesst der Ullukol-Gletscher

diese vereiste Passage ließ sich mit etwas Vorsicht ohne Einsatz der Steigeisen überwinden

Im Lager 2 angekommen, werden wir der beiden Elbrusgipfel ansichtig. Das Bild lässt diese flacher erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind

Ankunft in Lager 2

Aussicht nach Osten

Wieder im Abstieg, durch Block- und Geröllfelder aus vulkanischem Gestein hindurch. Das Gestein wirkt auf seiner Oberfläche oft wie glattpoliert und lackiert.

ein typischer Boulder - erstarrte Lava hinterliess bizarre Felsformationen in der kargen Landschaft


die Wüste lebt ...


Ankunft bei den Kamennye Griby, den Steinernen Pilzen


nochmals ein Beispiel von zu Skulpturen erstarrter Lava

wieder zurück bei den Kühen im Basislager

eine Hirtenhütte mit Viehgatter

Gemütlichkeit in der Aufenthaltshütte

dieser Bach wird durch eine Narsanquelle in Lagernähe gespeist

05.08.2013

Die Nacht und der Morgen sind merklich kälter, als am Vortag. Ich füge mich der russischen Gemächlichkeit, wir brechen spät auf, um 11.15 h. Das Wetter zeigt sich anfangs besser und lässt auch mehr Aussicht zu, doch die ovale Wolkenwölbung über den Elbrusgipfeln zeigt an, dass dort oben ein gehöriger Sturm tobt. Die Windstärken am Elbrus sind oft der ausschlaggebende Faktor zu Gipfelerfolg oder vorzeitigem Umkehren. Wir haben heute allerdings noch keinen Grund, verdrießlich zu werden, denn unseren Gipfelversuch werden wir frühestens in zwei Tagen angehen können, die Wettersituation kann sich bis dahin schon wieder mehrfach geändert haben. Wir halten die Rastplätze von gestern wieder ein. Ab etwa 3000 m legt der Wind zusehends an Stärke zu. Nach einem lauen Auftakt im T-Shirt sind bald schon dicke Jacken und Sturmhaube angemessen. Graupelschauer setzen ein, gehen in Schneetreiben über. Um 15.50 erreichen wir das nun sturmumtoste Lager 2. Zunächst bricht ein Streit aus. Eine französische Gruppe hat unsere Utensilien von den Betten entfernt, auf die wie sie gestern deponiert hatten, und unsere Schlaflager in Beschlag genommen. Grund dafür ist ein Organisationsfehler. Gestern schon waren einige Männer der Agentur damit beschäftigt, eine zweite Hütte aufzubauen, die für die anrückenden Franzosen gedacht war. Diese ist jedoch bis dato nicht fertig geworden. Wir machen kurzen Prozess und legen beim Aufbau der Hütte Hand an. Schrauben und Werkeln im Schneesturm, anstatt Akklimatisationstour, mal ganz was Neues! Irgendwie macht´s aber Laune,  und da die Aufenthaltshütte nicht beheizt ist, hilft´s auch gegen vorzeitiges Auskühlen durch Passivität. Zu guter Letzt können die Franzosen in die neu erstellte Hütte umziehen, während wir auf den Schlafplätzen in der alten Hütte bleiben. Es sind doch einige weitere Gruppen hier oben, zudem auch zahlreiche Zelter jenseits des Hüttenlagers. In der Schlafhütte ist es hoffnungslos eng und jeder Schlafplatz ist belegt, dazu noch die Ausrüstung eines jeden Einzelnen - da kommt man sich schon vor wie in der Heringsdose. Ich habe einen Schlafplatz in einer der obigen Kojen der Zweistockbetten, zwischen Nase und Decke ist da nicht mehr allzu viel Platz, aber schlussendlich ist es warm hier drin, und als ich so im Schlafsack liegend mit der Stirnlampe noch ein paar Seiten lese, während der Wind draußen entfesselt um die Hütte heult, scheint´s mir sogar richtiggehend kuschelig und gemütlich ...

Gruppenfoto vor dem Abmarsch - nicht alle der hier versammelten Personen sind Gipfelanwärter

der Elbrus hat seine Haube aufgesetzt - mit Sicherheit tobt oben ein Sturm



Wir durchqueren wiederum die Ebene, welche im Krieg als Flugfeld für die deutsche Wehrmacht diente

zwei seltsame Eisenstäbe finden sich dort ein wenigen hundert Metern Abstand zueinander - dienten sie zur Erfassung der hiesigen Schneehöhen, oder sind es Relikte von besagtem Flugfeld?



Valerij pfeift der Wind hier oben gehörig um die Ohren :-)

Unverhofft erwartet uns nach Ankunft im Lager 2 noch eine Betätigung ganz anderer Art ...

06.08.2013

Gegen 7.15 h spaziere ich schon im Lager umher, alles schläft noch. Es ist ein wunderschön sonniger, aber windiger Morgen. Der Elbrus trägt eine nunmehr nur noch dezente Wolkenhaube, das Tiefland versteckt sich unter der Waschküche einer dichten Wolkendecke.

Nach und nach beginnt das Leben im Lager sich zu regen. Für einen wie mich, für den das Frühaufstehen und frühe Aufbrechen zum Bergsteigen dazugehört, ist die Art und Weise, wie das hier alles so vor sich geht, durchaus gewöhnungsbedürftig. Um 10.30 h brechen wir endlich zu unserer Akklimatisierungstour auf. Der Wind hat sich inzwischen gelegt, alles deutet auf beste Verhältnisse hin. Wohl denen, die heute schon zum Gipfel aufsteigen, denke ich. Das ist immer so ein kribbeliger Faktor mit dem Wetter. Mehr als zwei bis drei Tage stehen einem zum Gipfelversuch für gewöhnlich nicht zur Verfügung, und im Voraus weiß man nie, ob´s dann eben gerade passen wird.

Alexeij gibt ein äußerst gemächliches Tempo vor, nach dem Prinzip des schwächsten Gliedes einer Kette möchte er gerne allen Teilnehmern die Chance auf eine vernünftige Akklimatisation geben. So geht´s auf enspannte Weise zusammen mit der Gruppe hinauf bis auf 4400 Meter. Ab hier verbleibt der Rest der Gruppe, um nach einer Pause in Begleitung unseres zweiten Bergführers ins Lager zurückzukehren. Nur noch Alexeij, Valerij und ich gehen jetzt weiter, nun aber in einem stark forcierten Tempo! Später wird uns Alexeij gestehen, dass er uns damit prüfen wollte, ob wir wirklich die geeigneten Kandidaten sind, um das Kreuz am Elbrus zu machen. Um 14.35 h verlassen wir P 4400 und erreichen P 4852 exakt eine Stunde später. Alexeij ist zufrieden mit uns, und wir mit ihm ...

Eine bestens präparierte Spur erleichtert sowohl Auf- als auch Abstieg, erst kurz vor Wiedererreichen des Lagers wird der Schnee sulzig, um 17.15 treffen wir wieder dort ein.

bereits am Morgen des 06.08. zeigen sich perfekte Verhältnisse, doch für uns ist es leider noch zu früh

eine meteorologische Station befindet sich zwar in Lagernähe, sie ist den Bergsteigern jedoch nicht für Vorhersagen dienlich

Dijup und Valerij in der Messehütte des Lager 2

Tahir und Alexeij

Lager 2 thront frühmorgens noch über den Wolken ...


... doch im Tagesverlauf steigen die Wolken auf und werden irgendwann das Lager in Nebel hüllen

Rast bei der Akklimatisierungstour. Noch ist die Gruppe beisammen


Dijup und Tahir, unsere beiden in Moskau wohnhaften Aserbaidjaner

ab Punkt 4300 steigen nur noch Valerij, Alexeij und ich weiter auf

wir sind an unserem Umkehrpunkt auf 4852 m Höhe (GPS-Messung) angelangt


wer sich am Elbrus im Nebel verirrt, kann leicht mal in eine Spalte stürzen!


Alexeij und Valerij passieren im Abstieg die Lenzfelsen

der erste der Lenzfelsen ist mit einem orthodoxen Kreuz besetzt

hier zeigt sich die rege Windtätigkeit am Elbrus

das Panorama vom Lager 2 ist immer wieder dasselbe, und doch irgendwie nie ganz gleich ...

07.08.2013
Die Franzosen sind diese Nacht zum Gipfel aufgebrochen. Ich bin ein wenig neidisch und ungeduldig, denn die Bedingungen zeigen sich in den Morgenstunden wiederum perfekt. Wer weiß, wie lange noch! Heute stünden Übungen im Eis auf dem Programm, Spaltenbergung u.ä., doch niemand in der Gruppe hat Interesse. Ich alleine möchte bei Alexeij auch nicht weiter insistieren, und so wird´s eben ein Bummeltag im Lager. Für mich eher langweilig, wegen meiner nichtvorhandenen Russischkenntnisse. Zeitweise ziehe ich mich zurück, finde einen aussichtsreichen Platz zwischen den hier überall verstreut liegenden Lavablöcken und lese Felice Benuzzis "Gefangen vom Mount Kenia", während der Überblick auf den Lagerzustiegsweg und über mich hinwegziehende Nebelschwaden sich abwechseln. Von meiner Position aus habe ich sogar Handyempfang und erreiche meinen Vater, um ihm zum Geburtstag zu gratulieren.

Im Lager bleibt es den ganzen Tag über warm, auch als dort bereits am späten Vormittag Nebel aufzieht. Morgen wollen wir den Gipfel versuchen, und ich kann es kaum erwarten. Ich bin aber auch nervös - hoffentlich hält das Wetter morgen nochmal, und es bleibt weiterhin windstill!

Wir werden morgen ein unvorhergesehenes Problem haben: gerade mal 2 1/2 l Wasser für drei Mann! Alexeij hat nur ein Halbliterbehältnis, ich selbst einen Liter, Valerij anderthalb, und es ist keine zusätzliche Flasche mehr im Lager aufzutreiben. An so etwas zu scheitern, das könnte ich mir nie verzeihen ...

Am späten Nachmittag kehren die Franzosen zurück. Ihr Ziel war der Westgipfel, der höchste Punkt Europas, der von Norden her mühsamer zu erreichen ist, als über den Südanstieg. Dennoch hat es die Mehrheit der Gruppe zum Gipfel geschafft - etwa 14 Stunden lang waren sie heute unterwegs.

Nachdem das Lager schon seit Stunden zugenebelt ist, fängt es jetzt noch an zu schneien. Noch lange vor Sonnenuntergang legen wir uns in die Kojen. Wir werden heute Nacht aufbrechen, bereits um 23.30 ist Wecken, danach ausgiebiges Frühstück, der Abmarsch ist für 1 Uhr Nachts vorgesehen. Ich bin gespannt!

08.08.2013

10 cm Neuschnee ist gefallen, als wir mitten in der Nacht durchs Lager stolpern. Das "Frühstück" lässt es an nichts fehlen, und wir hauen rein - ohne dabei zu vergessen, viel, viel, viel vorzutrinken ...

Diese Nacht ist eine wahrlich stockfinstere. Die supertolle Hauptspur, über die wir vor zwei Tagen noch so bequem aufgestiegen waren, ist zugeschneit und verweht, Alexeij geht voraus und muss dabei neu spuren. Nach einer Weile treffen wir auf eine bereits gelegte Spur. Es ist also jemand noch vor uns aufgebrochen, denn diese Spur kann nicht mehr von gestern sein. Irgendwann werden wir auch vor uns mehrerer Lampenlichter gewahr. Es dauert nicht lange, und wir haben die vor uns steigende Gruppe eingeholt. Nun muss Alexeij erneut spuren. Ich bin gottfroh, dass wir mit Alexeij von einem bestens Ortskundigen geführt werden, denn in dieser rabenschwarzen Nacht auf dem nun unverspurten, weitläufigen Gletscher die richtige Route zu finden, das wäre ohne GPS-Unterstützung sicher problematisch geworden, ganz abgesehen von der Gefahr, dabei eventuell noch unversehens in eine Spaltenzone zu geraten.

Unser früher Aufbruch bedingt, dass wir lange Zeit im Dunkeln zubringen müssen. Hatten wir bislang am Elbrus nur mäßig kalte Temperaturen erlebt, so wird es heute ab etwa 4500 m wirklich eiskalt, ich schätze so um die minus 20 Grad. Ich bin jetzt froh über unseren kurzfristig gefassten Entschluss, anstatt der normalen Hochtourenstiefel doch lieber unsere La Sportiva Spantik - Expeditionsstiefel mit auf diese Reise zu nehmen. Meine 160-Euro-Eiskletterhandschuhe der Firma Marmot erweisen sich bei diesen Temperaturen übrigens als nicht zufriedenstellend. Ich hätte besser daran getan, mein Dreifachset Expeditionshandschuhe mitzunehmen, welches sich bereits am Aconcagua und am Ojos del Salado bewährt hatte. Ich habe ernsthafte Probleme, meine Finger nach kurzem Ausziehen der Handschuhe wieder warmzubekommen. Eine gute dreiviertel Stunde brauche ich, bis die Finger endlich wieder auftauen.

Als die Morgendämmerung einsetzt, habe wir bereits die 5000-Meter-Marke gekappt. Wir erleben ergreifende Momente - die Entschädigung für den langen Anstieg durch die Finsternis. Zuerst kündigt ein dezentes bläulich-rötliches Schimmern am Horizont des ansonsten noch dunklen, aber mit tausenden glitzernden Sternen übersäten Himmelbaldachin den anbrechenden Tag an. Farbe und Licht ändern sich langsam, werden heller, doch bis zu den ersten, von uns sehnlichst erwarteten Sonnenstrahlen dauert es noch. Wir überblicken das Tiefland und die Vorberge nördlich des Elbrus, ohne etwas davon zu sehen zu bekommen, denn eine dichte Wolkendecke wabbert überm Land, wie der Schaum eines frisch angerichteten Vollbades. Als Bergsteiger schon so oft erlebt, und doch immer wieder aufs Neue fasznierend, so weit über allem zu stehen, selbst über den Wolken!

Wir sind ein Weilchen stehengeblieben, und inzwischen trifft auch die Gruppe wieder ein, welche wir in der Nacht überholt hatten. Sie streben nun direkt zum Ostgipfel. Wir beschließen, zuerst zum Westgipfel zu gehen, um auf jeden Fall den höchsten Punkt Europas für uns einnehmen zu können, bevor wir uns dann bei noch ausreichender Puste und bis dahin hoffentlich noch anhaltenden guten Bedingungen dem Zweithöchsten zuwenden.

Der Hauptgrund, warum es schwieriger und mühsamer ist, den Westgipfel des Elbrus von Norden her zu besteigen, als von Süden, ist die nun folgende längere, nun zusätzlich durch windverblasenen Neuschnee erschwerte Traversierung durch die Westflanke des Ostgipfels, welche in den die beiden Gipfel voneinander trennenden Elbrussattel führt. Zuvor kommen wir an der kleinen Sattelhütte vorbei, welche in der Vergangenheit schon mal vom Winde verweht wurde, siehe meine Bemerkungen im Vorwort zu dieser Geschichte. Ich öffne neugierig die Türe, um einen Blick hineinzuwerfen. Leicht erschreckte Gesichter antworten auf mein "Dobro Jutro". Offensichtlich war man auf morgendliche Besucher nicht gefasst. Drei Personen haben sich  hineingequetscht und die Nacht hier oben verbracht. War bestimmt gehörig frostig ...

Nach einer etwas längeren Pause neben der Hütte gehen wir´s an. Gut erkennbar ist die Spur durch die Ostflanke des Westgipfels, zumal dort auch schon einige Personen im Aufstieg begriffen sind. Auch diese Flanke bereitet bei guten Verhältnissen eigentlich keine technischen Schwierigkeiten. Dennoch findet sich an einer exponierten Stelle ein Fixseil - möglicherweise ist man bei Vereisung dankbar dafür. Man könnte hier durchaus den Hang hinunterschlittern und sich möglicherweise auch dabei verletzen. Es besteht aber keine tödliche Absturzgefahr.

Uns läuft es heute unglaublich gut. Wir überholen die meisten der vor uns gehenden Partien. Wir müssen dabei kein einziges Mal innehalten und halten pausenlos fast maschinell unser Tempo. Valerij erreicht den Gipfel um 8.50 h, ich folge um 8.55 h, Alexeij trifft um 9.00 h ein. Es ist stark windig und saukalt, aber immer noch sonnig, über uns wölbt sich ein strahlend blauer Himmel. Leider sind die meisten Gipfel des normalerweise im Süden sich aufreihenden Kaukasus-Hauptkammes bereits von der Wolkeninvasion, welche von den Tälern aus im Laufe des Morgens höher und höher gestiegen ist, ergriffen, uns die erhoffte Aussicht in diese Richtung leider verwehrt bleibt. Dennoch ist es fantastisch, wie der Elbrus, und mit ihm auch wir, solitär weit aus diesem Wolkenmeer herausragt. Eine exzellente Übersicht über diesen weitläufigen, sich fast schon wie ein eigenständiges Massiv gebärdenden Berg wird uns zuteil. Gegenüber erhebt sich der Ostgipfel - wenn wir den heute auch noch erreichen würden ...

Nachdem wir, wegen der Kälte eingepackt wie die Astronauten, diese prachtvolle Aussicht unter der Sonne des Kaukasus ausgekostet und die Freude darüber, den Elbrus-Hauptgipfel und gleichzeitig mit diesem den höchsten Punkt Europas erreicht zu haben, mit lauthalsem Jubelgeschrei weit hörbar kundgetan haben, machen wir uns an den Abstieg. In der Flanke scheinen die Elbrus-Passionsspiele inzwischen ihren Höhepunkt erreicht zu haben. Wir passieren zahlreiche Gruppen, deren Teilnehmer teilweise völlig erschöpft zu sein scheinen. Es wird mehr gestanden, gesessen und gekniet, als gegangen. Einer kriecht gar wie verzweifelt auf allen Vieren aufwärts. Ich mache mich darüber nicht lustig, schließlich ging es mir selbst oft genug so. Nur heute kann ich mal sagen, so leicht ist mir noch nie ein 5000er gefallen. Dennoch möchte ich festhalten, dass der Weg hier herauf auch für uns nicht gerade ein Zuckerschlecken war.

Wir sind wieder zurück im Sattel. Wir wollten doch noch weiter auf den Ostgipfel? Die blöde lange Traverse zurück, dazu haben wir eigentlich wenig Motivation. Man müsste direkt durch die doch recht steil ausschauende Westflanke emporziehen, schlägt Alexeij vor. Doch müsste man die erst noch spuren, er selbst habe aber keine Kraft mehr dazu, diese Arbeit die komplette Flanke hindurch zu übernehmen. Also müssten nun auch wir ran. Gesagt, getan, ich übernehme den ersten Part - und bleibe dann auch gleich vornweg. Die Spurerei lässt sich besser an, als befürchtet und ich finde zu Stimmung und Motivation zurück. Es ist doch immer wieder ein erhebendes Gefühl, selbständig einen Berg zu spuren und dabei mit seinen in den Schnee gesetzten Windungen gleichzeitig auch seine Visitenkarte zurückzulassen. Irgendwann dringen Sonnenstrahlen über eine Kammerhöhung oberhalb von mir hinweg. Sollte dies bereits der Kraterrand sein? Prompt sehe ich auch über mir eine Person vorübergehen. Wohl ein Besteiger, der über den Normalweg des Ostgipfels von Norden her diesen Kamm erreicht hat. Und ich liege richtig: als ich auf der Kammhöhe ankomme, habe ich eine riesige Fläche vor mir und erblicke in einiger Entfernung, ohne nennenswerte Höhendifferenz, die Gipfelpyramide des Ostgipfel, um welche sich eine kleine Gruppe versammelt hat, zu der auch die von mir zuvor gesichtete Person gehört. Ich kann meine Freude kaum in Worte fassen. "Wir haben ihn, dort drüben ist er!" brülle ich, nun vollkommen außer mir, zu Valerij und Alexeij herunter. Vorhin auf dem Westgipfel habe ich mich glücklich und zufrieden gefühlt, aber jetzt, im Anmarsch zu dem nur noch wenige hundert Meter von mir entfernten Ostgipfel kommen mir fast die Tränen. Ich bin völlig ergriffen, wir haben es tatsächlich geschafft, das Kreuz vom Elbrus, auf beide Gipfel an einem Tag!

Da der Ostgipfel ein sich vom Westgipfel sehr unterscheidendes Panorama bietet, ist er auch so gesehen ein lohnendes Ziel. Am 22.Juli 1829 hatte ein tscherkessischer Kosake namens Killar vermutlich als erster Mensch diesen Punkt erreicht. Er war der Einzige aus der damaligen Expedition, welcher tatsächlich auch den Gipfel erreichte. Der Aufstieg wurde damals über die von uns gekommene Nordroute vollzogen. Killars unter den damaligen Umständen wahrlich heldenhafte Tat gilt bis heute als die Erstbesteigung des Elbus

Auch der Ostgipfel zeigt sich uns windig und eisig kalt, der Zustand "oben blauer Himmel, unter uns Wolken" bleibt vorerst weiterhin bestehen. Leider bleibt es am Hauptkamm weiterhin stark bewölkt, weshalb die Chance auf das erhoffte Hauptkammpanorama so langsam gegen Null geht. Rasch kehren wir zurück in den Sattel. Wir hatten dort übrigens noch vor unserem Aufstieg zum Ostgipfel Dijup getroffen, der sich von Tahir und dem die beiden begleitenden Bergführer getrennt hatte. Tahir war wohl bereits vor Erreichen des Elbrussattels schon am Ende seiner Kräfte und nicht mehr in der Lage, die Tour weiterzugehen. Der Bergführer wollte mit den Beiden umkehren, doch Dijup weigerte sich und trennte sich von den Beiden, in der Absicht, sein vorgenommenes Ziel, den Westgipfel, selbständig zu besteigen. Den Ostgipfel hatte er übrigens im Jahr zuvor schon erreicht. Da gab´s natürlich Zoff, auch Alexeij hatte vor unserem Aufstieg noch eine eifrige Diskussion mit Dijup, da die Statuten der Agentur solche Alleingänge dem Kunden verbieten. Dies ist so auch im eingangs zu unterschreibenden Vertrag festgehalten.

Im Sattel verbringen wir zunächst einige Zeit mit Warten. Falls Dijup auftauchen sollte, würden wir ihn auf unserem vorgesehenen Abstieg nach Süden einfach mitnehmen. Doch er kommt nicht, und es ist schließlich davon auszugehen, dass er zwischenzeitlich selbständig nach Norden abgestiegen ist. Uns wird kalt und wir setzen nun unsere Tour wie geplant fort, indem wir den Südabstieg wählen. Jetzt hat auch uns der Nebel erreicht und damit ist die Hoffnung auf Sicht zum Kaukasus-Hauptkamm endgültig gestorben. Im Abstieg über die skipistenähnliche Südroute gibt es für uns praktisch keine Fernblicke mehr. Wir folgen den Fähnlein und den Absperrseilen auf dieser eigentlich schon idiotensicheren Route. Unterwegs mag die Schlange von aufsteigenden Personen nicht mehr abreißen. Das Publikum hier ist international. Neben adäquat ausgerüsteten Bergsteigern sind hier auch einige kuriose Figuren unterwegs, die sonst wohl nicht allzu viel mit den Bergen zu tun zu haben scheinen.

Der Schnee ist inzwischen unangenehm weich geworden, und wir kommen auch so langsam ans Limit unserer Kräfte. Während Alexeij und Valerij sich aber noch gut zu unterhalten scheinen, erlebe ich selbst nahezu den gesamten Südabstieg als eine einzige Qual. Wir passieren die Ruinen der 1997 abgebrannten Prijut-11-Hütte auf 4060 m. Ab hier heizen Motorschlitten mit Höchstgeschwindigkeit durch die Gegend, schwere Ratraks manövrieren ebenfalls, es stinkt nach Benzin und nach Abgasen, man muss aufpassen, dass man zu guter Letzt nicht noch über den Haufen gefahren wird. Wir sind entsetzt und werden es erst recht, als wir auf 3700 m die Bergstation des Sesselliftes erreichen, wo sich auch die berühmt-berüchtigten Wohntonnen (russ.: Botschiks) befinden. Es ist alles noch viel hässlicher, als ich es erwartet hätte. Schrott und Bauschutt fahren wild in der Landschaft herum, halbverfallene Gebäude gammeln vor sich her, Benzintonnen, verrostete Stahlseile, wir erleben eine wahre Endzeitlandschaft. Wir stapfen schließlich am Ende des Gletschers durch dreckigen Schlamm und ölige Pfützen hindurch bis vor zur Bergstation, wo wir uns in die hölzernen Sitze des Sessellifts hieven um diesem Elend schnellstmöglich zu entfliehen. In den grottenhässlichen Wohntonnen zu übernachten, um dann anderntags unter den Seilbahnmasten hindurch in verschandelter Natur auf breitem, monotonem Fahrweg nach Azau abzusteigen, wie ich es mir in der Vergangenheit einmal vorgestellt hatte, darauf haben wir jetzt wirklich keine Lust! An der Mittelstation wechseln wir vom Sessellift in eine Seilbahnkabine. Diese bringt uns hinunter in das auf 2400 m Höhe gelegene Azau. Der winzige, uninteressante Ferienort ist die letzte Ortschaft im hintersten Baksantal.

Das Baksantal ins seiner Gesamtheit gefällt uns aber. Gerne wären wir hier für einen oder zwei Tage geblieben, doch unsere Agentur hat für heute noch unsere Rückkehr per Taxi nach Kislowodsk vorgesehen. Es ist 16.15 h, als wir im Garten eines Restaurants in Ceget die müden Füsse unterm Tisch ausstrecken und uns leckere Sachen aus der kaukasischen Küche auftragen lassen. Wir erfreuen uns an der Idylle hier und lassen den Duft von Tannenwäldern in unseren Nasen kitzeln. Auch eine gewisse Genugtuung über die Rückkehr in die Zivilisation wollen wir nicht verhehlen. Und wir freuen uns auf die bevorstehende Fahrt das gesamte Tal hinaus, welche wir zu unserem Glück noch bei Tageslicht erleben werden.

Die Ortschaften des Baksantales haben die typische Prägung von Bergkurorten, wie ich sie bereits von vergangenen Bergreisen durch andere Länder des ehemaligen Ostblocks her kenne, sprich Tschechien und Slowakei, Rumänien, Kirgistan und Bulgarien. Schön die Anordnung der Häuser zwischen schattigen Tannenhainen, so kenne ich das auch etwa von den Tatrakurorten. Die Dörfer sind oft zusammengewürfelt aus recht unterschiedlichen Baustilen, von welchen viele noch den Stempel der vergangenen Sowjetära tragen. Sie sind inzwischen aber auch gepaart mit Investitionen neueren Datums. Wild schäumen die Fluten des Baksanflusses durch das mit durchwegs steilen Bergflanken beengte Tal hindurch. Verkommene Wohnblocks wechseln sich mit geschmackvollen Ferienhäuschen im Jagdhüttenstil, Schafe weiden in den grasigen Hängen, dann plötzlich wieder überirdische Rohrleitungen - es ist das in den Augen vieler Westler scheinbar Unvereinbarliche, was einem derlei Orte und Gebiete mögen lässt, oder eben nicht. Gelegentlich gemahnen uns Strassensperren, an denen maskierte russische Sondereinheiten mit ihren Kalaschnikows im Anschlag Kofferräume von Fahrzeugen mit Personen kaukasischen Aspekts durchsuchen, an die krasse politische Wirklichkeit hier im Nordkaukasus, an einen von der übrigen Welt kaum wahrgenommenen, kriegsähnlichen Konflikt.

Inzwischen ist es längst dunkel geworden, als wir Kislowodsk erreichen. Dreieinhalb Stunden Fahrzeit und 16 Tourenstunden liegen hinter uns, was für ein Tag!

Die Dämmerung schreitet voran, und wir mit ihr, befinden wir uns schließlich schon weit über 5000 Metern Höhe



Alexeij im Wintergewand

Valerij kann´s Herumkraxeln nicht sein lassen.

Sehnlichst haben wir auf die ersten Sonnenstrahlen gewartet, in der Hoffnung auf ein bisschen Wärme

Wir haben die Sattelhütte erreicht. Die Aufstiegsflanke des Westgipfels ist nun bestens einsehbar.

Bei der Sattelhütte auf 5373 m Höhe


Dieser Bergsteiger hat es nicht mehr weit bis zum Westgipfel, im Hintergrund dominiert der Ostgipfel

auch ich habe es gleich geschafft

Valerij steht schon oben


Alexeij naht

Stilleben am Gipfelsteinmann


drüben wartet der Ostgipfel - schaffen wir den auch noch?



Alexeij befindet sich zwischenzeitlich knapp unterm Gipfel

Inschriften und Devotionalien beim Gipfelsignal

Sieg und Gloria auf dem höchsten Punkt Europas

der Kraterrand des Ostgipfels. Der höchste Punkt befindet sich ganz außen rechts im Bild

diese Flanke müssen wir hochspuren, um den Ostgipfel zu erreichen

Valerij im Abstieg vom Westgipfel

Wir sind wieder zurück im Sattel. In der Aufstiegsflanke des Westgipfels herrscht nun reger Betrieb.

Im Aufstieg durch die Westflanke des Ostgipfels finde ich nochmals zu unerwarteter Form. Unter mir folgt Valerij

Ich bin auf dem Kraterrand angekommen. Blick nach links, in Gegenrichtung zum Gipfel

Dort drüben ist er, der höchste Punkt des Ostgipfels

Willkommen auf der zweithöchsten Erhebung Europas!

Das ist nicht etwa ein russischer Kosmonaut, sondern ich am Signal des Ostgipfels. Im Hintergrund erhebt sich der Westgipfel.

auch Alexeij wird gleich neben uns stehen

Abstieg nach Süden im Nebel

Auf der rechten Begrenzung dieser Mulde befinden sich die traurigen Überreste der 1997 bis auf die Grundmauern abgebrannten Prijut-11-Hütte. Im 2. Weltkrieg hatten sich an der Prijut 11 kuriose Szenen zwischen russischen und Wehrmachtstruppen zugetragen

Spätestens hier ist vorbei mit der Bergesruh´!

Man beachte - Touristen in Jeans und mit Handtaschen, der per Seilbahn und Ratrak bis auf die Höhe der einstigen Prijut 11 gebracht wurden.

Die Bergstation des Sessellifts ist bald erreicht - ich bin zu diesem Zeitpunkt fix und alle!

Blick aus der Seilbahnkabine zu wilden Bergspitzen im Kaukasus-Hauptkamm. Hier oben verläuft die Grenze zu Georgien. Aufgrund der politischen Differenzen zwischen Russland und Georgien ist derzeit praktisch alles hier oben Sperrgebiet. Hoffentlich kommen bald wieder bessere Zeiten!

Wir sind in Ceget, einem kleinen Ferienort im Baksantal und lassen es uns nach 16-stündiger Bergtour kullinarisch wohlergehen

09.08.2013

So, das Kreuz am Elbrus ist also geschafft! Doch jetzt haben wir ein Problem der ganz anderen Art: wir selbst waren schneller, als unser Gepäck. Wie bereits erwähnt, hatten wir bereits im Basislager Sachen zurückgelassen, die wir in der Fortsetzung unserer Tour nicht mehr benötigen würden. Auch im Lager 2 blieben weitere nicht mehr nötige Dinge zurück, da wir am Gipfeltag mit all unseren Vorhaben mit Minimalstgepäck möglichst unbelastet unterwegs sein wollten. Vor heute abend ist mit dem Eintreffen unseres Restgepäcks nicht zu rechnen. Mit Expeditionsstiefeln und Dreckklamotten wollen wir uns aber sicher nicht im noblen Kislowodsk blicken lassen. Jiri hilft aus, und so können wir doch noch zu unserem Einkaufsbummel losziehen.Für den genussvollen Verzehr eines speziellen kaukasischen Schaschliks, welches auf einem drehbaren Teller mit diversen Fleischsorten serviert wird, lassen wir uns mehrere Stunden Zeit. Abends gehen wir abermals mit unseren neu gekauften Hemden und Hosen aus. Alexeij und Tanja, die ebenfalls heute vom Basislager zurückgekehrt ist, begleiten uns.

Kislowodsk ...













10./11.08.2013

Zusammen mit Tanja und Alexeij besuchen wir den schicken Kurort Schelesnowodsk. Am 16. Juli 1990 fanden hier die letzten entscheidenden Verhandlungen über die Wiedervereinigung Deutschlands zwischen Helmut Kohl und Michail Gorbatschow statt. Am folgenden Morgen werden wir von Sergeij zum Flughafen zurückgebracht.

Einer der Hausberge von Schelesnowodsk. In der Region sind neben Wanderungen auch Klettereien möglich

Schelesnowodsk







In Russland nimmt man es oft nicht so genau mit der Sicherheit, wie bei uns